Dienstag, 22. April 2014

Antwort auf "Antwort auf Hiob" von C.G. Jung 6.Teil


IV

Wie der Entschluss zur Menschwerdung sich anscheinend des altägyptischen Vorbildes bedient, so können wir auch erwarten, dass der Verlauf derselben im Einzelnen sich an gewisse Präfigurationen anlehnen wird. -- Als alle diese Vorstellungen entstanden, befand sich das gesamte davon betroffene geographische Gebiet in beliebigem auch kulturellem Austausch. Die Annahme der Wirkung von überirdischen Mächten ist reine Spekulation und findet ausschließlich in der Phantasie Jungs statt. -- Die Annäherung der Sophia bedeutet neue Schöpfung. Diesmal soll aber nicht die Welt geändert werden, sondern Gott will sein eigenes Wesen wandeln. Die Menschheit soll nicht, wie früher, vernichtet, sondern gerettet werden. Man erkennt in diesem Entschluss den menschenfreundlichen Einfluss der Sophia: es sollen keine neuen Menschen geschaffen werden, sondern nur Einer, der Gottmensch. Zu diesem Zwecke muss ein umgekehrtes Verfahren angewendet werden. Der männliche Adam secundus soll nicht als Erster unmittelbar aus der Hand des Schöpfers hervorgehen, sondern er soll aus dem menschlichen Weibe geboren werden. Die Priorität fällt diesmal also der Eva secunda zu, und zwar nicht etwa nur in zeitlichem, sondern auch in substantiellem Sinne. Mit Berufung auf das sog. Protoevangelium, nämlich speziell Gen. 111, 15, entspricht die zweite Eva dem »Weibe und seinem Samen«, das der Schlange »den Kopf zertreten« wird. Wie Adam als ursprünglich hermaphroditisch gilt, so gilt auch das »Weib und sein Samen« als ein Menschenpaar, nämlich als die Regina coelestis (Anm.: Schutzkönigin) und Gottesmutter einerseits und der göttliche Sohn, der keinen menschlichen Vater hat, andererseits. So wird Maria, die Jungfrau, als reines Gefäß für die kommende Gottesgeburt auserwählt. Ihre Selbständigkeit und Unabhängigkeit vom Manne wird durch ihre prinzipielle Jungfrauschaft hervorgehoben. Sie ist eine »Gottestochter«, die, wie später dogmatisch festgestellt wird, von allem Anfang an schon durch das Privileg der unbefleckten Empfängnis ausgezeichnet und damit von der Befleckung der Erbsünde befreit ist. Ihre Zugehörigkeit zum status ante lapsum (Anm.: Zustand vor der Erbsünde) ist daher evident. Damit wird ein neuer Anfang gesetzt. Die göttliche Makellosigkeit ihres Zustandes lässt ohne weiteres erkennen, dass sie nicht nur die imago Dei in ungeminderter Reinheit trägt, sondern dass sie als Gottesbraut auch ihren Prototypus, die Sophia, inkarniert. Ihre in den alten Dokumenten ausführlich hervorgehobene Menschenfreundlichkeit lässt vermuten, dass Jahwe in dieser seiner neuesten Schöpfung sich von Sophia in wesentlichen Stücken hat bestimmen lassen. Denn Maria, die »gebenedeite unter den Weibern«, ist eine Freundin und Fürbitterin der Sünder, welche die Menschen allesamt sind. Sie ist wie Sophia eine Mediatrix, die zu Gott führt und den Menschen dadurch das Heil der Unsterblichkeit sichert. Ihre Assumptio ist das Vorbild für die leibliche Auferstehung des Menschen. Als Gottesbraut und Himmelskönigin hat sie die Stelle der alttestamentlichen Sophia inne.
Bemerkenswert sind die ungewöhnlichen Vorsichtsmaßnahmen, mit welchen die Gestaltung der Maria umgeben wird: conceptio immaculata, Ausmerzung der macula peccati (Anm.: befleckte Empfängnis), immerwährende Virginität. Damit wird die Gottesmutter offenkundig gegen die Streiche Satans gesichert. Man darf aus dieser Tatsache schließen, dass Jahwe seine Allwissenheit zu Rate gezogen hat, denn in dieser besteht ein klares Wissen um die perversen Neigungen, denen der dunkle Gottessohn huldigt. Maria muss unbedingt vor dessen korrumpierenden Einflüssen geschützt werden. Die unvermeidliche Folge dieser eingreifenden Schutzmaßnahmen ist allerdings ein Umstand, den man bei der dogmatischen Bewertung der Inkarnation ungenügend in Rechnung gesetzt hat: die Befreiung von der Erbsünde enthebt die Jungfrau auch der allgemeinen Menschheit, deren gemeinsames Merkmal die Erbsünde und daher die Erlösungsbedürftigkeit ist. Der Status ante lapsum bedeutet soviel als paradiesische, d. h. pleromatische und göttliche Existenz. Maria wird durch die Anwendung besonderer Schutzmaßnahmen sozusagen zum Status einer Göttin erhoben und büßt damit ihre volle Menschlichkeit ein: Sie wird ihr Kind nicht wie alle anderen Mütter in der Sünde empfangen und daher wird es auch nie ein Mensch, sondern ein Gott sein. Man hat - meines Wissens wenigstens -nie gesehen, dass damit die wirkliche Menschwerdung Gottes in Frage gestellt bzw. nur teilweise vollzogen wurde. Beide, Mutter und Sohn, sind keine wirklichen Menschen, sondern Götter.
Diese Veranstaltung bedeutet zwar eine Erhöhung der Persönlichkeit Mariae im männlichen Sinn, indem sie der Vollkommenheit Christi angenähert wird, aber zugleich auch eine Kränkung des weiblichen Prinzips der Unvollkommenheit bzw. der Vollständigkeit, indem dieses durch Perfektionierung bis auf jenen kleinen Rest, der Maria noch von Christus unterscheidet, vermindert wird - Phoebo propior lumina perdit! – {Anm.: das nähere (proprior) Licht (eigentlich phoebus) zerstört (perdit) die Augen (lumina, wörtlich Lichter, sollte aber in diesem Kontext als Augen zu lesen sein)} Je mehr somit das weibliche Ideal in die Richtung des männlichen umgebogen wird, desto mehr verliert die Frau die Möglichkeit, das männliche Streben nach Vollkommenheit zu kompensieren, und es entsteht ein männlich idealer Zustand, der, wie wir sehen werden, von einer Enantiodromie (entwickelte Vorstellung vom stetigen Gegeneinanderwirken der Kräfte, die allem Lebendigen als Grundgesetz des Seins und des kosmischen Rhythmus innewohnt) bedroht ist. Über die Vollkommenheit hinaus führt kein Weg in die Zukunft, es sei denn eine Umkehr, d. h. eine Katastrophe des Ideals, welche durch das weibliche Ideal der Vollständigkeit hätte vermieden werden können. Mit dem jahwistischen Perfektionismus hat sich das Alte Testament in das Neue fortgesetzt, und trotz aller Anerkennung und Erhöhung des weiblichen Prinzips ist letzteres gegenüber der patriarchalen Herrschaft nicht durchgedrungen. Es wird also noch von sich hören lassen.
 

V

Bei den von Satan verdorbenen Ureltern war der erste Sohn missraten. Er war ein Eidolon (Anm.: Trugbild, Gespenst) Satans, und nur der jüngere Sohn Abel war Gott wohlgefällig. Das Gottesbild war in Kain entstellt; in Abel dagegen war es bedeutend weniger getrübt. Wie der ursprüngliche Adam als Abbild Gottes gedacht ist, so stellt der wohlgeratene Gottessohn, das Vorbild Abels (über das, wie wir sahen, keine Dokumente vorliegen), die Präfiguration des Gottmenschen dar. Von letzterem wissen wir positiv, dass er als Logos praeexistent und coaetern, ja sogar όμοούσιος (omooysios: gleichen Wesens) mit Gott ist. Man kann Abel daher als unvollkommenen Prototyp des nunmehr in Maria zu erzeugenden Gottessohnes betrachten. Wie Jahwe ursprünglich den Versuch unternahm, sich im Urmenschen Adam ein chthonisches (Anm.: lebens- und fruchtbarkeitsspendend) Äquivalent zu schaffen, so beabsichtigt er jetzt etwas Ähnliches, aber bedeutend Besseres. Diesem Zwecke dienen die oben erwähnten außerordentlichen Vorsichtsmaßnahmen. Der neue Sohn, Christus, soll wie Adam einerseits chthonischer Mensch, also leidensfähig und sterblich, andererseits aber nicht' wie Adam ein bloßes Abbild, sondern Gott selber sein, von sich selbst als Vater erzeugt und als Sohn den Vater verjüngend. Als Gott ist er schon immer Gott gewesen und als Sohn der Maria, die wie ersichtlich ein Abbild der Sophia darstellt, ist er der Logos (synonym mit Nous), welcher, wie Sophia, ein Werkmeister der Schöpfung ist, wie das Johannesevangelium berichtet. Diese Identität von Mutter und Sohn wird von der Mythologie vielfach beglaubigt.
Trotzdem es sich bei der Geburt Christi um ein geschichtliches und einmaliges Ereignis handelt, so ist es doch immer schon in der Ewigkeit vorhanden gewesen. Dem Laien in diesen Dingen ist die Vorstellung der Identität eines unzeitlichen und ewigen mit einem einmaligen historischen Ereignis stets schwer gefallen. Er muss sich aber an den Gedanken gewöhnen, dass »Zeit« ein relativer Begriff ist und eigentlich ergänzt werden sollte durch den Begriff einer »gleichzeitigen« Bardo- oder pleromatischen Existenz aller geschichtlichen Vorgänge. Was im Pleroma als ein ewiger »Vorgang« vorhanden ist, das erscheint in der Zeit als aperiodische Sequenz, d. h. in vielfacher unregelmäßiger Wiederholung. Um nur ein Beispiel ZU geben: Jahwe hat einen missratenen und einen guten Sohn. Diesem Prototypus entsprechen Kain und Abel, sowie Jakob und Esau, und in allen Zeiten und Zonen das Motiv der feindlichen Brüder, welch letzteres in unzähligen modernen Varianten noch die Familien spaltet und den Psychotherapeuten beschäftigt. Ebenso viele und ebenso instruktive Beispiele ließen sich für die in der Ewigkeit vorgezeichneten zwei Frauen beibringen. Derartige Dinge sind deshalb, wenn sie als moderne Varianten erscheinen, nicht etwa bloß für persönliche Zwischenfälle, Launen oder zufällige individuelle Idiosynkrasien zu halten, sondern für den in zeitliche Einzelereignisse auseinandergefallenen pleromatischen Vorgang, der einen unerlässlichen Bestandteil oder Aspekt des göttlichen Dramas bedeutet.
-- Es ist für mich immer wieder frappierend, wie Jung immer wieder Entsprechungen aus dem ungeheuren, angelesenen Fundus der Mythologie findet. In einer seiner Veröffentlichungen nimmt er sogar ausdrücklich auf dieses Wissen Bezug, indem er behauptet, dass das Verstehen vieler psychischer Faktoren ein Wissen der Entwicklungen von Mythen voraussetzt. Ich behaupte, dass das gewaltige Volumen an diesbezüglichem Wissen Jung angesichts seiner persönlichen Entwicklung gar keine andere Wahl ließ, als eben diese Zusammenhänge zu „entdecken“. Es ist dies das Grundproblem jeder modernen Wissenschaft, dass sehr großes Wissen in Spezialgebieten den Blick auf alles außerhalb verstellt.
Jung hat sich bekanntermaßen sehr bald und sehr intensiv mit Mythologie beschäftigt und sicher ungeheure Volumina an diesbezüglicher Primär- und Sekundärliteratur „verschlungen“. Dies lässt sich an den Literaturangaben seiner Schriften und auch an deren Inhalt ablesen. Ich hatte beim Lesen vieler seiner Schriften den Eindruck, dass er von diesen mythologischen Schriften außerordentlich fasziniert war, weil er glaubte, darin Antworten auf viele seiner Fragen zu finden und immer mehr von dieser Literatur konsumierte, anstatt auch Kontrapunkte zu setzen und diese Standpunkte begründet zu hinterfragen. Wie ihm geht es bei solcher Vorgangsweise jedem Menschen. Es gibt aus diesen gedanklichen Verstrickungen keinen Ausweg mehr, weil man im Verlauf eines solchen Prozesses den Eindruck bekommt, dass niemand mehr der eigenen Position widersprechen kann, weil jedem das Wissen dazu fehlt. Noch dazu war Jung in seinem sich als elitäre Vorreiter fühlenden Kreis so etwas wie der Meister unter Jüngern, hatte also Autorität, die allzugerne akzeptiert wurde, weil er einen schwierigen Weg zurücklegte, der sonst von jedem selbst zu gehen notwendig gewesen wäre. Alle hatten davon einen Vorteil: Jungs Autorität wuchs und die Jünger sparten sich große Mühe. --
Als Jahwe die Welt aus seiner Urmaterie, dem sog. »Nichts«, schuf, konnte er gar nicht anders als sich selber in die Schöpfung, die er in jedem Stücke selber ist, hineingeheimnissen, wovon jede vernünftige Theologie schon längstens überzeugt ist. Daher kommt die Überzeugung, man könne Gott aus seiner Schöpfung erkennen. Wenn ich sage, er hätte nicht anders gekonnt, so bedeutet dies keine Einschränkung seiner Allmacht, sondern im Gegenteil die Anerkennung, dass alle Möglichkeiten in ihm beschlossen sind, und es daher gar keine anderen gibt als diejenigen, die ihn ausdrücken.
Alle Welt ist Gottes, und Gott ist in aller Welt von allem Anfang an. Wozu dann die große Veranstaltung der Inkarnation? fragt man sich erstaunt. Gott ist ja de facto in allem, und doch muss irgend etwas gefehlt haben, dass nunmehr ein sozusagen zweiter Eintritt in die Schöpfung mit soviel Umsicht und Sorgfalt inszeniert werden soll. Da die Schöpfung universal ist, die fernsten Sternnebel umfasst und auch das organische Leben als unendlich variabel und differenzierungsfähig angelegt hat, so ist hierin ein Manko wohl kaum ersichtlich. Dass Satan überall seinen korrumpierenden Einfluss hineingemischt hat, ist zwar aus vielen Gründen bedauerlich, tut aber im Wesentlichen nichts zur Sache. Eine Antwort auf diese Frage ist nicht leicht zu geben. Man wird natürlich behaupten wollen, dass Christus erscheinen muss, um die Menschheit vom Übel zu erlösen. Wenn man aber bedenkt, dass das Übel ursprünglich von Satan insinuiert wurde und noch beständig hineingezaubert wird, so erschiene es doch bedeutend einfacher, wenn Jahwe diesen »practical joker« einmal energisch zur Ordnung riefe und seinen schädlichen Einfluss und damit die Wurzel des Übels eliminierte. Es brauchte dann gar nicht die Veranstaltung einer besonderen Inkarnation mit all den unabsehbaren Folgen, die eine Menschwerdung Gottes mit sich bringt. Man vergegenwärtige sich, was das heißt: Gott wird Mensch. Das bedeutet nichts weniger als weltumstürzende Wandlung Gottes. Es bedeutet etwas wie seinerzeit die Schöpfung, nämlich eine Objektivation Gottes. Damals offenbarte er sich in der Natur schlechthin; .jetzt aber will er, noch spezifischer, gar zum Menschen werden. Allerdings, müssen wir sagen, hat eine Tendenz in dieser Richtung schon immer bestanden. Als nämlich die offenbar vor Adam geschaffenen Menschen mit den höheren Säugetieren in Erscheinung traten, schuf Jahwe anderntags in einem besonderen Schöpfungsakt einen Menschen, der das Abbild Gottes war. Damit geschah die erste Präfiguration zur Menschwerdung. Jahwe nahm das Volk, die Nachkommen Adams, in seinen persönlichen Besitz und erfüllte von Zeit zu Zeit Propheten dieses Volkes mit seinem Geist. Das waren lauter vorbereitende Ereignisse und Anzeichen einer innergöttlichen Tendenz zur Menschwerdung. In der Allwissenheit aber bestand seit Ewigkeit das Wissen um die Menschennatur Gottes oder die Gottesnatur des Menschen. Darum finden wir, schon längst vor der Abfassung der Genesis, entsprechende Zeugnisse in den altägyptischen Dokumenten. Diese Andeutungen und Präfigurationen der Menschwerdung wollen einem als gänzlich unverständlich oder überflüssig erscheinen, da ja alle Schöpfung, die ex nihilo erfolgte, Gottes ist, aus nichts anderem als aus Gott besteht und daher auch der Mensch wie die ganze Kreatur sowieso konkret gewordener Gott ist. Präfigurationen sind aber an sich keine Schöpfungsereignisse, sondern bloß Stufen im Bewusstwerdungsprozess. Man hat eben erst sehr spät realisiert (resp. ist immer noch damit beschäftigt), dass Gott das Wirkliche schlechthin ist, also nicht zum mindesten auch Mensch. Diese Realisierung ist ein säkularer Prozess. -- Jung hat seine Lektion im Religionsunterricht gelernt: Alle religiöse Entwicklung steuert auf die Menschwerdung Gottes in Jesus hin (sic!). Ich will seinen Glauben nicht hinterfragen, da es sein Glauben ist und nicht meiner. Mit derselben Grundlage lässt sich auch der Islam, der noch später kam begründen und die Moslems tun dies auch. Genauso behaupten die Mormonen und glauben dies auch, dass Amerika und das Buch Mormon das Ziel der Entwicklung war. Dies alles respektiere ich auch als den je eigenen Glauben von Menschen und es liegt mir fern, sie vom Gegenteil überzeugen zu wollen. Ich verlange nur, dass sie alle nicht versuchen, die ganze Welt mit ihren Maßstäben zu erlösen, da sie alle nur wenige Blickwinkel von vielen auf die Welt sind. Genau das beanspruchen zumindest alle monotheistischen Religionen und deren Subsekten für sich. Und hier entsteht ein Problem, das allzuoft in der Vergangenheit mit massenhaftem Abschlachten von Menschen geendet hat.
Ich bin überzeugt, dass ich immer von vielen konkreten Menschen in vielen dieser Gemeinschaften etwas lernen kann und diese glauben zumeist nur, dass ihr Glaube der einzig wahre ist. Und hier scheiden sich unsere Wege, denn für mich ist es ungeachtet der Notwendigkeit grundsätzlicher Regeln für das Zusammenleben von Menschen zu schade, die ungeheuer große Vielfalt der menschlichen Lebensäußerungen in starre und letztlich immer krank machende Korsette religiöser Vorschriften und Rituale zu zwingen, deren negative Auswirkungen nicht nur heutzutage zu beobachten sind, sondern zu allen Zeiten gegenwärtig waren.


VI

In Ansehung des großen Problems, das wir zu erläutern uns nun anschicken, schien mir dieser Exkurs über pleromatische Ereignisse als Einleitung nicht überflüssig zu sein.
Was ist nun aber der wirkliche Grund zur Menschwerdung als historischem Ereignis?
Um diese Frage zu beantworten, müssen wir etwas weit ausholen. Wie wir sahen, hat Jahwe anscheinend eine Abneigung dagegen, das absolute Wissen gegenüber seiner Allmachtdynamik in Betracht zu ziehen. Der in dieser Beziehung wohl instruktivste Fall ist seine Beziehung zu Satan: immer liegen die Dinge so, dass es aussieht, als ob Jahwe über die Absichten seines Sohnes nicht unterrichtet wäre. Das rührt aber davon her, dass er seine Allwissenheit nicht in Betracht zieht. Man kann sich etwas derartiges dadurch erklären, dass Jahwe durch seine sukzessiven Schöpfungsakte dermaßen fasziniert und in Anspruch genommen war, dass er seine Allwissenheit darob vergaß. Es ist durchaus begreiflich, dass die zauberhafte Körperlichwerdung diversester Gegenstände, die zuvor nie und nirgends in solcher Anschaulichkeit existiert hatten, ein unendliches göttliches Entzücken verursachten. Sophia erinnert sich wohl ganz richtig, wenn sie sagt:
»Als er die Grundfesten der Erde legte,
da war ich als Liebling ihm zur Seite,
war lauter Entzücken Tag für Tag. «
Noch im Buch Hiob klingt die stolze Schöpferfreude nach, wenn Jahwe auf seine großen Tiere, die ihm gelungen sind, hinweist :
»Siehe doch das Flusspferd, das ich schuf wie dich . . .
Das ist der Erstling von Gottes Schaffen,
gemacht zum Beherrscher seiner Genossen.«
Noch in der Zeit Hiobs ist Jahwe berauscht von der ungeheuren Macht und Größe seiner Schöpfung. Was bedeuten daneben schon die Sticheleien Satans und die Lamentationen der wie Flusspferde geschaffenen Menschen, auch wenn sie Gottes Abbild tragen? Jahwe scheint überhaupt vergessen zu haben, was letzteres bedeutet, sonst hätte er wohl Hiobs menschliche Würde nicht so vollständig ignoriert. -- Anthropomorphiesierendes Geschwätz --
Es sind eigentlich erst die sorgfältigen und vorausschauenden Vorbereitungen zur Geburt Christi, welche erkennen lassen, dass die Allwissenheit anfängt, einen nennenswerten Einfluss auf Jahwes Handeln zu gewinnen. Ein gewisser philanthropischer und universalistischer Zug macht sich bemerkbar. Die »Kinder Israel« treten gegenüber den Menschenkindern etwas in den Hintergrund, auch hören wir seit Hiob zunächst nichts mehr von neuen Bünden. Weisheitssprüche scheinen an der Tagesordnung zu sein, und ein eigentliches Novum, nämlich apokalyptische Mitteilungen, macht sich bemerkbar. Das deutet auf metaphysische Erkenntnisakte, d. h. auf »konstellierte« unbewusste Inhalte, die bereit sind, ins Bewusstsein durchzubrechen. In allem ist, wie schon gesagt, Sophias hilfreiche Hand am Werke.
Wenn man Jahwes Verhalten bis zum Wiederauftreten der Sophia im Ganzen betrachtet, so fällt die eine unzweifelhafte Tatsache auf, dass sein Handeln von einer inferioren Bewusstheit begleitet ist. Immer wieder vermisst man die Reflexion und die Bezugnahme auf das absolute Wissen. Seine Bewusstheit scheint nicht viel mehr als eine primitive »awareness« (wofür es leider kein deutsches Wort gibt) zu sein. Man kann den Begriff mit »bloß wahrnehmendes Bewusstsein« umschreiben. Awareness kennt keine Reflexion und keine Moralität. Man nimmt bloß wahr und handelt blind, d.h. ohne bewusst reflektierte Einbeziehung des Subjektes, dessen individuelle Existenz unproblematisch ist. Heutzutage würde man einen solchen Zustand psychologisch als »unbewusst« und juristisch als »unzurechnungsfähig« bezeichnen. Die Tatsache, dass das Bewusstsein keine Denkakte vollzieht, beweist aber nicht, dass solche nicht vorhanden sind. Sie verlaufen bloß unbewusst und machen sich indirekt bemerkbar in Träumen, Visionen, Offenbarungen und »instinktiven« Bewusstseinsveränderungen, aus deren Natur man erkennen kann, dass sie von einem »unbewussten« Wissen herrühren und durch unbewusste Urteilsakte und Schlüsse zustande gekommen sind. -- Dies ist Anthropomorphisierung in Reinstformat. Der Gott des Christentums ist so, wie er ist, weil die Menschen ihn so denken können --
Etwas derartiges beobachten wir in der merkwürdigen Veränderung, die nach der Hiobepisode sich im Verhalten Jahwes eingestellt hat. Es ist wohl nicht daran zu zweifeln, dass ihm die moralische Niederlage, die er sich Hiob gegenüber zugezogen hat, zunächst nicht zum Bewusstsein gekommen war. In seiner Allwissenheit stand diese Tatsache allerdings schon seit jeher fest, und es ist nicht undenkbar, dass dieses Wissen ihn unbewusst allmählich in die Lage gebracht hat, so unbedenklich mit Hiob zu verfahren, um durch die Auseinandersetzung mit letzterem sich etwas bewusst zu machen und eine Erkenntnis zu gewinnen. Satan, dem später nicht zu Unrecht der Name »Luzifer« zuerkannt wurde, verstand es, die Allwissenheit öfter und besser zu nützen als sein Vater. Es scheint, dass er der einzige unter den Gottessöhnen war, der soviel Initiative entwickelte. Auf alle Fälle war er es, der Jahwe diejenigen unvorhergesehenen Zwischenfälle in den Weg legte, welche in der Allwissenheit als nötig, ja unerlässlich für die Entwicklung und Vollendung des göttlichen Dramas gewusst waren. Dazu gehörte der entscheidende Fall Hiob, der nur dank der Initiative Satans zustande kam.
Der Sieg des Unterlegenen und Vergewaltigten ist einleuchtend: Hiob stand moralisch höher als Jahwe. Das Geschöpf hatte in dieser Beziehung den Schöpfer überholt. Wie immer, wenn ein äußeres Ereignis an ein unbewusstes Wissen rührt, kann letzteres bewusst werden. Man erkennt das Ereignis als ein »deja vu« und erinnert sich an ein präexistentes Wissen darum. Etwas derartiges muss mit Jahwe geschehen sein. Die Überlegenheit Hiobs kann nicht mehr aus der Welt geschafft werden. Damit ist eine Situation entstanden, die nun wirklich des Nachdenken~ und der Reflexion bedarf. Aus diesem Grunde greift Sophia ein. Sie unterstützt die nötige Selbstbesinnung und ermöglicht dadurch den Entschluss Jahwes, nun selber Mensch zu werden. Damit fällt eine folgenschwere Entscheidung: er erhebt sich über seinen früheren primitiven Bewusstseinszustand, indem er indirekt anerkennt, dass der Mensch Hiob ihm moralisch überlegen ist und dass er deshalb das Menschsein noch nachzuholen hat.
Hätte er diesen Entschluss nicht gefasst, so wäre er in flagranten Gegensatz zu seiner Allwissenheit geraten. Jahwe muss Mensch werden, denn diesem hat er Unrecht getan. Er, als der Hüter der Gerechtigkeit, weiß, dass jedes Unrecht gesühnt werden muss, und die Weisheit weiß, dass auch über ihm das moralische Gesetz waltet. Weil sein Geschöpf ihn überholt hat, muss er sich erneuern.
Da nun nichts geschehen kann ohne eine präexistente Vorlage, selbst nicht die creatio ex nihilo, die sich immerhin auf den ewigen Bilderschatz in der Phantasie der »Werkmeisterin« berufen muss, so kommt als unmittelbares Vorbild für den zu erzeugenden Sohn einesteils (aber nur in beschränktem Maße) Adam, anderenteils (dies in höherem Maße) Abel in Frage. Adams Beschränkung besteht darin, dass er zur Hauptsache Geschöpf und Vater, wenn schon Anthropos ist. Abels Vorteil aber besteht darin, dass er der Gott wohlgefällige Sohn, erzeugt und nicht direkt geschaffen ist. Dabei muss ein Nachteil in Kauf genommen werden: er ist früh durch Gewalt ums Leben gekommen, zu früh, um eine Witwe mit Kindern zu hinterlassen, was zu einem vollen menschlichen Schicksal eigentlich gehört hätte. Abel ist nicht der eigentliche Archetypus des Gott wohlgefälligen Sohnes, sondern bereits ein Abbild, aber als solches das erste, das wir aus der Hl. Schrift kennen. Der frühsterbende Gott ist auch in damaligen heidnischen Religionen beglaubigt, ebenso der Brudermord. Wir gehen daher wohl kaum fehl in der Annahme, dass Abels Schicksal auf ein metaphysisches Ereignis zurückweist, welches sich zwischen Satan und einem lichten, dem Vater mehr ergebenen Gottessohn abgespielt hat. Davon geben uns ägyptische Überlieferungen Kunde. Wie gesagt kann der präfigurierende Nachteil des Abeltypus nicht wohl umgangen werden, denn er ist ein integrierender Bestandteil des mythischen Sohndramas, wie die verschiedenen heidnischen Varianten dieses Motivs zeigen. Der kurze, dramatische Verlauf des Abelschicksals kann wohl als Paradigma für das Leben und den Tod eines Mensch gewordenen Gottes dienen.
Wir erblicken also den unmittelbaren Grund für die Menschwerdung in der Erhöhung Hiobs und den Zweck derselben in der Bewusstseinsdifferenzierung Jahwes. Dazu hat es allerdings einer bis aufs Äußerste zugespitzten Situation bedurft, einer affektvollen Peripetie (Anm.: plötzlicher Umschlag, plötzliches Unglück), ohne welche kein höheres Bewusstseinsniveau erreicht wird.

-- Es stellt sich hier für mich nicht zum ersten Mal die Frage, ob sich Jung nicht durch sein exzessives Studium "mythologischer" Literatur beliebiger Herkunft schlichtweg verirrt hat. Die Tatsache, dass schriftkundige Menschen zu allen Zeiten beliebige Spekulationen zu Papier gebracht haben, sagt nichts über die Bedeutsamkeit dieser Quellen aus. Es sagt nur aus, dass Menschen spekuliert haben, so wie dies auch heute, nur in viel größerem Ausmaß geschieht, weil es wesentlich mehr schriftkundige Menschen gibt. Ich behaupte, dass die Häufung von ähnlich lautenden Quellen nichts über deren Verlässlichkeit aussagt, sondern lediglich die zwischen Schriftkundigen funktionierenden Kommunikationsstränge aufzeigt. Dies ist auch heute nicht anders. Nur die Mechanismen haben andere technische Hintergründe. Oder einfacher gesagt: Voneinander variierend Abschreiben ist wesentlich weniger aufwendig als kreative Neuschöpfungen.--


VII

Für die kommende Geburt des Gottessohnes kommt neben Abel die seit alters festliegende und durch Tradition übermittelte Disposition des Heldenlebens überhaupt als Vorbild in Frage. Er ist ja nicht bloß als nationaler Messias, sondern als universaler Menschenerretter gedacht, infolgedessen kommen auch die heidnischen Mythen bzw. Offenbarungen in Bezug auf das Leben eines von den Göttern ausgezeichneten Mannes in Betracht.
Die Geburt Christi ist daher gekennzeichnet durch die bei Heldengeburten üblichen Begleiterscheinungen, wie die Vorausverkündigung, die göttliche Erzeugung aus der Jungfrau, die Koinzidenz mit der dreimaligen coniunctio maxima im Zeichen der Fische, welches dazumal gerade den neuen Aeon einleitet, verbunden mit der Erkenntnis einer Königsgeburt, die Verfolgung des Neugeborenen, dessen Flüchtung und Verbergung, die Unansehnlichkeit der Geburt usw. Das Motiv des Heldenwachstums ist noch erkennbar in der Weisheit des Zwölfjährigen im Tempel, und für die Losreißung von der Mutter liegen einige Beispiele vor.
Es ist ohne weiteres verständlich, dass dem Charakter und Schicksal des Mensch gewordenen Gottsohnes ein ganz besonderes Interesse eignet. Aus beinahe zweitausendjähriger Entfernung gesehen, bedeutet es allerdings eine ungemein schwierige Aufgabe, aus den erhaltenen Traditionen ein biographisches Bild Christi zu rekonstruieren; liegt uns doch nicht ein einziger Text vor, der auf die modernen Anforderungen an Geschichtsschreibung auch nur die geringste Rücksicht nähme. Die als historisch verifizierbaren Tatsachen sind äußerst spärlich, und was sonst als biographisch verwertbares Material vorliegt, ist nicht genügend, um daraus einen widerspruchslosen Lebenslauf oder einen irgendwie wahrscheinlichen Charakter herzustellen. Den Hauptgrund hiefür haben gewisse theologische Autoritäten darin entdeckt, dass sich von der Biographie und Psychologie Christi die Eschatologie nicht trennen lässt. Unter Eschatologie ist im wesentlichen die Aussage zu verstehen, dass Christus nicht bloß Mensch, sondern zugleich auch Gott ist und darum neben menschlichem Schicksal auch göttliches erleidet. Die beiden Naturen durchdringen sich derart, dass ein Trennungsversuch beide Naturen verstümmelt: die Göttlichkeit überschattet den Menschen, und der Mensch ist als empirische Persönlichkeit kaum erfassbar. Auch die Erkenntnismittel der modernen Psychologie genügen nicht, um alle Dunkelheiten aufzuhellen. Jeder Versuch, einen einzelnen Zug der Klarheit halber herauszuheben, vergewaltigt einen anderen, der entweder hinsichtlich der Göttlichkeit oder hinsichtlich der Menschlichkeit ebenso wesentlich ist. Das Alltägliche ist vom Wunderbaren und Mythischen dermaßen durchwoben, dass man seiner Tatsachen nie ganz sicher ist. Was wohl am meisten stört und verwirrt ist der Umstand, dass gerade die ältesten Schriften, nämlich diejenigen des Paulus, für die konkrete menschliche Existenz Christi nicht das mindeste Interesse zu haben scheinen. Auch die synoptischen Evangelien sind unbefriedigend, da sie mehr den Charakter von Propagandaschriften als von Biographien haben. -- Natürlich wollen alle mit ihren Berichten eine je eigenen Eindruck erreichen, das sich aus der Art der Berichte erschließen lässt. Und die Ergebnisse dieses Schließens sind wiederum von der Person des Schließenden abhängig. Also heillose Verwirrung in diesen Dingen. Wahrheit ist also so sicher nicht auffindbar.--
Was die menschliche Seite Christi anbelangt, wenn man von einem nur menschlichen Aspekt überhaupt reden kann, so tritt die »Philanthropie« besonders deutlich hervor. Dieser Zug ist schon angedeutet in der Beziehung der Maria zu Sophia und sodann, in besonderem Maße, in der Zeugung durch den Hl. Geist, dessen weibliche Natur Sophia personifiziert, denn sie ist die unmittelbare historische Vorform des άγιον πνεύμα ,welches durch die Taube, den Vogel der Liebesgöttin, symbolisiert wird. Auch ist meist die Liebesgöttin die Mutter des frühsterbenden Gottes. Die Philanthropie Christi wird aber nicht unwesentlich eingeschränkt durch eine gewisse prädestinatianische Neigung, welche ihn sogar gelegentlich veranlasst, seine heilsame Offenbarung den Nichterwählten vorzuenthalten. Wenn man die Prädestinationslehre wörtlich nimmt, so kann man sie im Rahmen der christlichen Botschaft nur schwer verstehen. Fasst man sie dagegen psychologisch als ein Mittel zur Erreichung eines bestimmten Effektes auf, so ist leicht zu begreifen, dass die Anspielung auf Vorherbestimmung ein Gefühl der Ausgezeichnetheit bewirkt. Wenn einer weiß, dass er seit Anfang der Welt von göttlicher Wahl und Absicht ausersehen ist, so fühlt er sich herausgehoben aus der Hinfälligkeit und Belanglosigkeit der gewöhnlichen menschlichen Existenz und versetzt in einen neuen Stand der Würde und der Bedeutsamkeit eines, der am göttlichen Weltdrama teilhat. Damit wird der Mensch in die Gottesnähe entrückt, was dem Sinne der evangelischen Botschaft durchaus entspricht. -- Die evangelische Botschaft ist eine genuin menschliche, von Menschen für Menschen aufgeschriebene. Göttlich ist lediglich die Zuordnung und Jung verirrt sich wiederum hoffnungslos in seinen Phantasien.--
Neben der Menschenliebe macht sich im Charakter Christi eine gewisse Zornmütigkeit bemerkbar, und, wie es bei emotionalen Naturen häufig der Fall zu sein pflegt, ebenso ein Mangel an Selbstreflexion. Nirgends findet sich ein Anhaltspunkt dafür, dass Christus sich je über sich selber gewundert hätte. Er scheint nicht mit sich selber konfrontiert zu sein. Von dieser Regel gibt es nur eine bedeutende Ausnahme: der verzweiflungsvolle Aufschrei am Kreuz: »Mein Gott, mein Gott, warum hast Du mich verlassen?« Hier erreicht sein menschliches Wesen Göttlichkeit, nämlich in dem Augenblick, wo der Gott den sterblichen Menschen erlebt und das erfährt, was er seinen treuen Knecht Hiob hat erdulden lassen. Hier wird die Antwort auf Hiob gegeben, und, wie ersichtlich, ist auch dieser supreme Augenblick ebenso göttlich wie menschlich, ebenso »eschatologisch« wie »psychologisch«. Auch hier, wo man restlos den Menschen empfinden kann, ist der göttliche Mythus ebenso eindrucksvoll gegenwärtig. Und beides ist eines und dasselbe. Wie will man da die Gestalt Christi »entmythologisieren«? Ein solcher rationalistischer Versuch würde ja das ganze Geheimnis dieser Persönlichkeit herauslaugen, und was übrig bliebe, wäre nicht mehr die Geburt und das Schicksal eines Gottes in der Zeit, sondern ein historisch schlecht beglaubigter religiöser Lehrer, ein jüdischer Reformator, der hellenistisch gedeutet und missverstanden wurde - etwa ein Pythagoras oder meinetwegen ein Buddha oder ein Mohammed, aber keinesfalls ein Sohn Gottes oder ein Mensch gewordener Gott. -- Genau das ist der Punkt. Dies ist alles eine Verwirrung der Worte. Ein "eindrucksvoll gegenwärtiger göttlicher Mythus'" ist hinreichend als persönliche seelische Erfahrung eines je einzelnen Menschen. Für alle anderen ist es bestenfalls ein Nachplappern und damit nichts anderes als Litanei.-- Überdies scheint man sich nicht genügend darüber Rechenschaft zu geben, zu was für Überlegungen ein von aller Eschatologie desinfizierter Christus Anlass geben müsste. Es gibt heutzutage eine empirische Psychologie, die trotzdem existiert, obschon die Theologie sie möglichst ignoriert, und von ihr könnten gewisse Aussagen Christi unter die Lupe genommen werden. Wenn diese Aussagen von der Verbindung mit dem Mythus gelöst werden, dann sind sie nämlich nur noch persönlich zu erklären. Zu was für einem Schlusse aber muss man notwendigerweise gelangen, wenn man z. B. die Aussage: »Ich bin der Weg und die Wahrheit und das Leben; niemand kommt zum Vater außer durch mich«, auf eine persönliche Psychologie reduziert? Offenbar zu demselben, den auch die Verwandten Jesu in ihrer Unkenntnis der »Eschatologie« gezogen haben. (Siehe Marc. 111, 21). Was soll eine Religion ohne Mythus, wo sie doch, wenn überhaupt etwas, eben gerade die Funktion bedeutet, die uns mit dem ewigen Mythus verbindet? -- Was ist der ewige Mythus? Ist er denn nicht mehr als der verzweifelte Versuch des denkenden Säugetiers, dem eigenen Geworfen-Sein in diese Welt und diese Zeit Sinn zu geben, der durch Mangel an Erfüllung im Hier und Jetzt eine Überlebensnotwendigkeit ist?
Was ist Erfüllung im Hier und Jetzt? Es ist nicht schrankenloses Tun oder schrankenloser Hedonismus oder dauerndes Totschlagen von Zeit, um nicht der eigenen Vergänglichkeit bewusst zu werden. Es ist das Gut-Sein-Lassen-Können des Hier und Jetzt mit allem Großartigen und allem Schrecklichen und allem dazwischen. Das ist kein Fatalismus, aber was schon geschehen ist, ist geschehen und was schon gesagt ist, ist gesagt. Wir können manches ändern, aber niemals das Geschehene. Wir können nur helfen, Folgen zu lindern.--
Auf Grund dieser eindrucksvollen Unmöglichkeiten hat man, wie aus einer gewissen Ungeduld mit dem schwierigen Tatsachenmaterial heraus, angenommen, Christus sei überhaupt nur ein Mythus, d. h. in diesem Fall so viel als Fiktion. Der Mythus ist aber keine Fiktion, sondern besteht in beständig sich wiederholenden Tatsachen, die immer wieder beobachtet werden können. -- Schmarrn -- Er ereignet sich am Menschen, und Menschen haben mythische Schicksale so gut wie griechische Heroen. Dass das Christusleben in hohem Grade Mythus ist, beweist daher ganz und gar nichts gegen seine Tatsächlichkeit; ich möchte fast sagen, im Gegenteil, denn der mythische Charakter eines Lebens drückt geradezu die menschliche Allgemeingültigkeit desselben aus. Es ist psychologisch durchaus möglich, dass das Unbewusste, bzw. ein Archetypus einen Menschen völlig in Besitz nimmt und sein Schicksal bis ins kleinste determiniert. Dabei können objektive, d. h. nichtpsychische Parallelerscheinungen auftreten, welche ebenfalls den Archetypus darstellen. Es scheint dann nicht nur, sondern ist so, dass der Archetypus sich nicht nur psychisch im Individuum, sondern auch außerhalb desselben objektiv erfüllt. Ich vermute, dass Christus eine derartige Persönlichkeit war. Das Christusleben ist gerade so, wie es sein muss, wenn es das Leben eines Gottes und eines Menschen zugleich ist. Es ist ein Symbolum, eine Zusammensetzung heterogener Naturen, etwa so, wie wenn man Hiob und Jahwe in einer Persönlichkeit vereinigt hätte. Jahwes Absicht, Mensch zu werden, die sich aus dem Zusammenstoß mit Hiob ergeben hat, erfüllt sich im Leben und Leiden Christi. -- Sehen das die Juden oder Muslime auch so? Meines Wissen nicht.--

 
VIII

Man wundert sich, in Erinnerung an frühere Schöpfungsakte, wo Satan bei alledem mit seinen subversiven Einflüssen bleibt. Überall sät er ja sein Unkraut unter den Weizen. Man könnte seine Hand im herodianischen Kindermord vermuten. Sicher ist sein Versuch, Christum zur Rolle eines weltlichen Herrschers zu verlocken. Ebenso deutlich ist die Tatsache, dass er, wie aus den Aussagen des Besessenen hervorgeht, über Christi Natur sich als wohl informiert erweist, auch scheint er Judas inspiriert zu haben, ohne aber den wesentlichen Opfertod beeinflussen, bzw. verhindern zu können. -- Es ist erstaunlich, wie Jung Geschichten der Bibel, die als allegorische Erzählungen noch hinreichen können, für bare Münze nimmt. Denn mit demselben Anspruch können Erzählungen von Wolperdingern, Werwölfen, Vampiren und Geistern wörtlich genommen werden, wo sich doch in diesen Geschichten die verschiedensten Ängste manifestieren, u.U. vermischt mit allen möglichen neurotischen Persönlichkeitsdeformationen. --
Seine relative Unwirksamkeit erklärt sich einesteils gewiss aus der sorgfältigen Vorbereitung der Gottesgeburt, andererseits aber auch aus einem merkwürdigen metaphysischen Ereignis, welches Christus wahrgenommen hat: Er sah, wie Satan wie ein Blitz aus dem Himmel fiel. Dieses Gesicht betrifft das Zeitlichwerden einer metaphysischen Begebenheit, nämlich die historische (vorderhand) endgültige Trennung Jahwes von seinem dunkeln Sohn. Satan ist aus dem Himmel verbannt und hat keine Gelegenheit mehr, seinen Vater zu zweifelhaften Unternehmungen zu überreden. Dieses »Ereignis« dürfte erklären, warum Satan, wo immer er in der Menschwerdungsgeschichte auftaucht, eine so unterlegene Rolle spielt, die in nichts mehr an das frühere Vertrauensverhältnis zu Jahwe erinnert. Er hat die väterliche Geneigtheit offenbar verscherzt und ist ins Exil geschickt worden. Damit hat ihn die Strafe, die wir in der Hiobgeschichte vermisst haben, nun doch -allerdings in merkwürdig bedingter Form -erreicht. Obschon er vom himmlischen Hofe entfernt ist, so hat er doch die Herrschaft über die sublunare (Anm. unter dem Mond) Welt behalten. Er wird nicht direkt in die Hölle, sondern auf die Erde geworfen und soll erst in der Endzeit eingeschlossen und dauernd unwirksam gemacht werden. Die Tötung Christi ist nicht auf seine Rechnung zu setzen, denn durch die Präfiguration in Abel und in den frühsterbenden Göttern bedeutet der Opfertod als ein von Jahwe gewähltes Schicksal die Wiedergutmachung für das Hiob geschehene Unrecht einerseits, und andererseits eine Leistung zugunsten der geistigen und moralischen Höherentwicklung des Menschen. Denn zweifellos wird der Mensch in seiner Bedeutung gemehrt, wenn sogar Gott selber Mensch wird.
Infolge der relativen Einschränkung des Satan ist Jahwe durch Identifikation mit seinem lichten Aspekt zu einem guten Gott und liebenden Vater geworden. Er hat zwar seinen Zorn nicht verloren und kann strafen, aber mit Gerechtigkeit. Fälle in der Art der Hiobstragödie sind anscheinend nicht mehr zu erwarten. -- Was ist mit dem Erdbeben von Lissabon, dem ersten Weltkrieg, der auch für Jung laut seiner Biographie mit dramatischen Ereignissen verknüpft war oder gar mit dem 2. Weltkrieg mit millionenfachem Judenmord? Alle diese Ereignisse waren Jung bei der Abfassung dieses Textes bekannt. Oder ist er auf dem christlichen Auge vollkommen blind? Deshalb, weil die Hiobs dieser Zeiten Jung nicht bekannt waren, weil er über sie nichts gelesen hat, heißt es nicht, dass es sie nicht gab. Ich bin schon wieder beim Aufhören der Beschäftigung mit dieser Schrift. Trotzdem! -- Er erweist sich als gütig und gnädig; er hat Erbarmen mit den sündigen Menschenkindern und wird als die Liebe selber definiert. Obschon Christus ein vollkommenes Vertrauen in seinen Vater hat und sich sogar Eins mit ihm weiß, kann er doch nicht umhin, im Vaterunser die vorsichtige Bitte (und Warnung) einzuflechten: »Führe uns nicht in Versuchung, sondern erlöse uns von dem Bösen.« Das heißt, Gott möge uns nicht direkt durch Verlockung zum Bösen veranlassen, sondern uns lieber davon erlösen. Die Möglichkeit, dass Jahwe, trotz aller Vorsichtsmaßnahmen und trotz seiner ausgesprochenen Absicht, zum Summum Bonum zu werden, wieder auf frühere Wege zurückgeraten könnte, liegt also nicht so fern, als dass sie nicht im Auge behalten werden müsste. Jedenfalls erachtet es Christus als zweckmäßig, im Gebete den Vater an seine für den Menschen verderblichen Neigungen zu erinnern und ihn zu bitten, davon abzulassen. Es gilt ja nach menschlichem Dafürhalten für unfair, ja sogar äußerst unmoralisch, kleine Kinder zu Handlungen, die ihnen gefährlich werden könnten, zu verlocken und zwar einfach nur darum, um ihre moralische Standfestigkeit zu erproben! Der Unterschied zwischen einem Kinde und einem Erwachsenen ist zudem unermesslich viel geringer, als zwischen Gott und seinen Geschöpfen, deren moralische Schwäche ihm am bekanntesten sein muss. Das Missverhältnis ist sogar so groß, dass man, wenn diese Bitte nicht im Vaterunser stünde, sie als Blasphemie bezeichnen müsste, denn es geht doch wahrhaftig nicht an, dass man dem Gott der Liebe und dem Summum Bonum eine derartige Inkonsequenz zuschreibt.
-- Was ist das Summum Bonum anderes als eine Projektion menschlicher Vorstellungen von Erlösung angesichts eines völligen Ungenügens des Säugetieres Mensch in seiner Triebhaftigkeit. Dieses Summum Bonum ist eine der vewerflichsten, weil völlig ungenügenden Vorstellungen vom Guten, weil wir als Menschen niemals nur gut sein können. Solange wir nicht die andere, aus moralischer Sicht böse Seite anschauen und annehmen, werden wir dieser nicht adäquat begegnen können, wobei adäquat immer im Lichte der jeweils konkreten sozialen und gesellschaftlichen Verhältnisse zu betrachten ist. ---
Die sechste Bitte des Vaterunsers lässt in der Tat tief blicken, denn angesichts dieser Tatsache wird die immense Sicherheit Christi hinsichtlich des Charakters seines Vaters etwas fraglich. Es ist ja leider eine allgemeine Erfahrung, dass besonders positive und kategorische Behauptungen namentlich dort auftreten, wo ein leiser Zweifel, der sich im Hintergrund bemerkbar macht, aus der Welt geschafft werden soll. Man muss ja zugeben, dass es schließlich gegen alle vernünftige Erwartung wäre, wenn ein Gott, der seit Urzeiten neben aller Generosität zeitweise verheerenden Wutanfällen ausgeliefert war, nun plötzlich zum Inbegriff alles Guten hätte werden können. Der uneingestandene, aber nichtsdestoweniger deutliche Zweifel Christi in dieser Hinsicht wird noch im Neuen Testament und zwar in der Apokalypse des Johannes bestätigt. Dort liefert sich nämlich Jahwe wiederum einer unerhörten Zerstörungswut gegenüber der Menschheit aus, von welcher bloß 144000 Exemplare übrig zu bleiben scheinen.
-- Anthropomorphiesierendes Geschwätz --
Man ist in der Tat in Verlegenheit, wie man eine derartige Reaktion mit dem Verhalten eines liebenden Vaters, von dem man erwarten müsste, er werde seine Schöpfung mit Geduld und Liebe schließlich verklären, in Einklang bringen könnte. Es hat sogar allen Anschein, als ob gerade der Versuch, dem Guten endgültig und absolut zum Siege zu verhelfen, zu einer gefährlichen Aufstauung des Bösen und damit zu einer Katastrophe führen müsste. Neben dem Weltende ist die Zerstörung von Sodom und Gomorrha, ja sogar die Sintflut, reines Kinderspiel; denn dieses Mal geht die Schöpfung überhaupt aus den Fugen. Da Satan zeitweise eingeschlossen, dann überwunden und in den Feuersee geworfen wird, so kann die Weltzerstörung kein Teufelswerk sein, sondern stellt einen von Satan nicht beeinflussten »act of God« dar. -- Immer, wenn ein Mensch stirbt, geht eine Welt unter. Diese Grunderfahrung müssen wir annehmen, denn das, was wir von anderen Menschen wissen, ist nur unser Bild von diesen. Und ausgerechnet dieses Bild bleibt erhalten. --
Dem Weltende geht die Tatsache voraus, dass selbst der Sieg des Gottessohnes Christus gegen seinen Bruder, den Satan, (der Gegenschlag Abels gegen Kain) nicht wirklich und endgültig erfochten ist, denn es ist vorher noch eine letzte machtvolle Manifestation Satans zu erwarten. Man kann kaum annehmen, dass die Inkarnation Gottes in seinem einen Sohne Christus vom Satan ruhig hingenommen würde. Sie muss gewiss seine Eifersucht aufs Höchste erregt und in ihm den Wunsch wachgerufen haben, Christus nachzuahmen [welche Rolle ihm als πνεύμα άντίμιμον  (pneuma antimimon: Die herkömmmliche Übersetzung "Nachahme-Geist" gibt nur durch den Bezug auf den Schöpfungsmythos in AJ 55,8; 56,14 f; 71,3 - 74,11 einen Sinn (als die von bösen Mächten geschaffene Gegenkraft zum göttlichen Pneuma des Menschen). Im ursprünglichen Dialog 67,15 und 68,15 meint "Antimimon Pneuma" den Gegengeist, der erst durch die Nichtkenntnis in den Menschen kommt, während das heilbringende Pneuma durch Gnosis erworben wird.( Vergl. zum Ganzen Hauschild, Gottes Geist S. 225-228)) besonders liegt] und nun seinerseits den dunkeln Gott zu inkarnieren. (Hierüber hat sich die spätere Legendenbildung, wie bekannt, ausführlich verbreitet.) Dieser Plan wird durch die Gestalt des Antichristus zur Ausführung gebracht werden und zwar nach Ablauf des astrologisch vorausbestimmten Jahrtausends, das der Dauer der Herrschaft Christi zugeschrieben wird. In dieser schon neutestamentlichen Erwartung wird ein Zweifel an der unmittelbaren Endgültigkeit oder der universalen Wirksamkeit des Erlösungswerkes laut. Leider - muss man sagen - bilden diese Erwartungen unreflektierte Offenbarungen, die mit der sonstigen Heilslehre nirgends auseinandergesetzt oder gar in Einklang gebracht werden.
-- Schmarrn --

 
IX

Ich erwähne die zukünftigen apokalyptischen Geschehnisse zunächst nur darum, um den Zweifel, der sich in der sechsten Bitte des Vaterunsers indirekt ausdrückt, zu illustrieren, nicht aber um eine Auffassung der Apokalypse überhaupt zu geben. Darauf werde ich unten zurückkommen. Zuvor aber müssen wir uns der Frage zuwenden, wie es sich mit der Menschwerdung Gottes über Christi Tod hinaus verhält. Man hat uns seit alters gelehrt, dass die Menschwerdung ein einmaliges historisches Ereignis sei. Man könne keine Wiederholung desselben und ebenso wenig eine weitere Offenbarung des Logos erwarten, denn auch diese sei in der Einmaligkeit der vor bald 2000 Jahren erfolgten Erscheinung des Mensch gewordenen Gottes auf Erden beschlossen. Die einzige Quelle der Offenbarung und die endgültige Autorität ist also die Bibel, und Gott nur insofern, als er die Schriften des Neuen Testamentes autorisiert hat. -- Schmarrn. Die Schriften des neuen Testamentes wurden von kirchlichen Autoritäten autorisiert. -- Mit dem Schluss des Neuen Testamentes hören die authentischen Mitteilungen Gottes auf. Soweit der protestantische Standpunkt! Die katholische Kirche, die direkte Erbin und Fortbildnerin des historischen Christentums, erweist sich hinsichtlich dieser Frage etwas vorsichtiger, denn sie nimmt an, dass das Dogma mit Beihilfe des Hl. Geistes sich weiterentwickeln und entfalten könne. Diese Auffassung steht in bester Übereinstimmung mit Christi Lehre vom Hl. Geiste und damit der weiteren Fortsetzung der Inkarnation. Christus ist der Ansicht, dass wer an ihn glaube, bzw. glaube, dass er der Sohn Gottes sei, der könne die Werke, die er tue, auch tun und noch größere als diese. Er erinnert seine Jünger daran, dass ihnen gesagt sei, sie seien Götter. Die Gläubigen oder Auserwählten sind Kinder Gottes und »Miterben Christi«. Wenn Christus den irdischen Schauplatz verlässt, so wird er den Vater bitten, den Seinen einen »Beistand« (den »Parakleten«; Anm.: Geist der Wahrheit) zu senden, der in Ewigkeit bei und in ihnen bleibt. Der Beistand aber ist der Hl. Geist, der vom Vater her gesendet wird. Dieser »Geist der Wahrheit. wird die Gläubigen lehren und »zur ganzen Wahrheit führen«. Christus hat sich demnach eine beständige Verwirklichung Gottes in dessen Kindern und daher in seinen Geschwistern im Geiste gedacht, wobei seine Werke nicht einmal notwendigerweise als die größten gelten müssten.
Da der Hl. Geist die dritte Person der Trinität darstellt, und in jeder der drei Personen jeweils der ganze Gott gegenwärtig ist, so bedeutet die Einwohnung des Hl. Geistes nichts weniger als eine Annäherung des Gläubigen an den Status des Gottessohnes. Man begreift daher unschwer den Hinweis: »Ihr seid Götter.« Dieser deifizierenden Wirkung des Hl. Geistes kommt natürlich die dem Erwählten eigentümliche imago Dei entgegen. Gott in der Gestalt des HI. Geistes schlägt sein Zelt bei und in den Menschen auf, denn er ist offenbar gesonnen, nicht nur in den Nachkommen Adams, sondern auch in einer unbestimmt großen Anzahl von Gläubigen, oder vielleicht in der Menschheit überhaupt, sich fortschreitend zu verwirklichen. Es ist daher symptomatisch bezeichnend, dass Barnabas und Paulus in Lystra mit Zeus und Hermes identifiziert wurden: »Die Götter sind den Menschen ähnlich geworden und zu uns herabgestiegen.« Das war allerdings die naivere heidnische Auffassung der christlichen Transmutation (Anm.: Umwandlung), aber eben gerade deshalb überzeugt sie. Ein solcher Fall schwebte wohl Tertullian vor, als er den »sublimiorem Deum« als »mancipem quendam divinitatis qui ex hominibus deos fecerits«, als eine Art von »Ausleiher von Göttlichkeit« bezeichnete. (Apolog. adv. gent. XI.)
Die Inkarnation Gottes in Christo bedarf insofern einer Fortsetzung und Ergänzung, als Christus infolge der Parthenogenesis (Anm.: Jungfernzeugung, Jungferngeburt) und der Sündlosigkeit kein empirischer Mensch war und daher, wie es bei Joh. 1 heißt, ein Licht darstellte, das zwar in die Finsternis leuchtete, aber von dieser nicht begriffen wurde. Er blieb außerhalb und oberhalb der wirklichen Menschheit. Hiob aber war ein gewöhnlicher Mensch, und deshalb kann nach göttlicher Gerechtigkeit das ihm und, mit ihm, der Menschheit geschehene Unrecht nur durch eine Inkarnation Gottes im empirischen Menschen wieder gut gemacht werden. Dieser Sühneakt wird durch den Parakleten (Anm.: Geist der Wahrheit) vollzogen, denn wie der Mensch an Gott, so muss Gott am Menschen leiden. Anders kann es keine »Versöhnung« zwischen den beiden geben.
Die fortlaufende, unmittelbare Einwirkung des Hl. Geistes auf die zur Kindschaft berufenen Menschen bedeutet de facto eine in die Breite sich vollziehende Menschwerdung. Christus, als der von Gott gezeugte Sohn, ist ein Erstling, der von einer großen Anzahl nachgeborener Geschwister gefolgt wird. Diese letzteren sind allerdings weder vom Hl. Geist gezeugt, noch aus einer Jungfrau geboren. Das mag ihren metaphysischen Status beeinträchtigen, keinesfalls aber wird ihre bloß menschliche Geburt die Anwartschaft auf eine zukünftige Ehrenstellung am himmlischen Hofe gefährden und ebenso wenig ihre Leistungsfähigkeit in Bezug auf Wunderwerke vermindern. Ihre niedere Herkunft (aus der Klasse der Säugetiere) hindert sie nicht, in ein nahes Verwandtschaftsverhältnis zu Gott als Vater und zu Christus als »Bruder« zu treten. In übertragenem Sinne ist es sogar eine »Blutsverwandtschaft«, denn sie haben Anteil am Blute und Fleische Christi empfangen, was mehr als bloße Adoption bedeutet. Diese tiefgreifenden Änderungen im menschlichen Status sind direkt durch das Erlösungswerk Christi bewirkt. Die Erlösung oder Errettung hat verschiedene Aspekte, so vor allem den einer durch Christi Opfertod geleisteten Sühne für die Verfehlungen der Menschheit. Sein Blut reinigt uns von den bösen Folgen der Sünde. Er versöhnt Gott mit dem Menschen und befreit diesen von dem ihm drohenden Verhängnis des Gotteszornes und der ewigen Verdammnis. Es leuchtet unmittelbar ein, dass derartige Vorstellungen Gottvater immer noch als den gefährlichen und deshalb zu propitiierenden (Anm. zu versöhnenden) Jahwe voraussetzen: der qualvolle Tod seines Sohnes muss ihm Genugtuung für eine Beleidigung leisten: er hat einen »tort moral« (Anm.: Unrecht haben) erlitten und wäre eigentlich geneigt, sich dafür furchtbar zu rächen. Wir stolpern hier wiederum über das Missverhältnis zwischen einem Weltschöpfer und seinen Geschöpfen, die sich zu seinem Ärger nie so benehmen, wie es seiner Erwartung entspräche. Es ist, wie wenn jemand eine Bakterienkultur anlegte, welche ihm missrät. Er kann dann zwar deshalb fluchen, aber er wird doch nicht den Grund für das Fehlresultat bei den Bakterien suchen und diese dafür moralisch bestrafen wollen. Er wird vielmehr einen passenderen Nährboden auswählen. Das Verhalten Jahwes gegenüber seinen Geschöpfen widerspricht allen Anforderungen der sog. »göttlichen« Vernunft, deren Besitz den Menschen vor dem Tier auszeichnen soll. Zudem kommt, dass ein Bakteriologe in der Wahl seines Nährbodens sich irren kann, denn er ist ein Mensch. Gott aber, vermöge seiner Allwissenheit, könnte sich nie irren, wenn er diese befragte. Er hat allerdings seine menschlichen Geschöpfe mit einem gewissen Bewusstsein und daher mit einem entsprechenden Grade von Willensfreiheit ausgestattet. Aber er kann auch wissen, dass er dadurch den Menschen in Versuchung führt, einer gefährlichen Selbständigkeit zu verfallen. Das wäre insoweit kein zu großes Risiko, wenn der Mensch es mit einem nur gütigen Schöpfer zu tun hätte. Aber Jahwe übersieht seinen Satanssohn, dessen List sogar er selber gelegentlich erliegt. Wie sollte er da erwarten können, dass der Mensch mit seinem beschränkten Bewusstsein und seinem so unvollkommenen Wissen es besser mache? Zudem übersieht er, dass, je mehr Bewusstsein ein Mensch besitzt, er desto mehr von seinen Instinkten, die ihm wenigstens noch eine gewisse Witterung von der verborgenen Weisheit Gottes geben, abgetrennt und jeder Irrtumsmöglichkeit preisgegeben ist. Satans List ist er schon gar nicht gewachsen, wenn nicht einmal sein Schöpfer diesem mächtigen Geiste Einhalt gebieten kann oder will. -- Vielleicht tue ich Jung mit manchen meiner Kommentare Unrecht. Denn so wie ich im 20. Jahrhundert nach dem 2. Weltkrieg als Kind von Flüchtlingen aus unterschiedlichen Gegenden Europas in einer Welt sozialisiert wurde, deren Wertesystem in Frage gestellt war, hat sich auch meine Vorstellung von Welt entwickelt. Jung wurde im letzten Viertel des 19. Jahrhunderts in einer durchaus sicheren, aber bipolaren protestantischen Bilderwelt in der Schweiz sozialisiert. Genauso sieht seine Antwort auf Hiob, bzw. die von ihm so gedachte Antwort Jahwes auf Hiob aus. Es muss wohl so sein. Keine Wahrheit ist eine ewige, sondern stets die Antwort eines Menschen auf das je eigene Leben. So ist auch mein Kommentar bzw. meine Antwort auf Jung nur aus meinem Lebenshintergrund erklärbar.


X

Die Tatsache der göttlichen »Unbewusstheit« wirft ein eigenartiges Licht auf die Erlösungslehre: die Menschheit wird keineswegs von ihren Sünden befreit, auch wenn man noch so regelrecht getauft und somit abgewaschen ist, sondern von der Furcht vor den Folgen der Sünde, nämlich dem Gotteszorn. Das Erlösungswerk will also den Menschen von der Gottesfurcht erlösen, was dort gewiss möglich ist, wo der Glaube an den liebenden Vater, der seinen eingeborenen Sohn zur Rettung des Menschengeschlechtes gesandt hat, den deutlich persistierenden (Anm.: beharrenden) Jahwe mit seinen gefährlichen Affekten verdrängt. Ein derartiger Glaube setzt aber einen Mangel an Reflexion oder ein sacrificium intellectus voraus, von denen es zweifelhaft ist, ob sie noch moralisch verantwortet werden können. Man darf ja nicht vergessen, dass Christus selber es war, der uns gelehrt hat, mit den anvertrauten Pfunden zu wuchern und sie nicht zu vergraben. Man darf sich nicht dümmer und unbewusster stellen als man ist, denn in allen anderen Belangen sollen wir wach, kritisch und unserer selbst bewusst sein, damit wir »nicht in Anfechtung fallen«, und die »Geister«, die Einfluss auf uns gewinnen wollen, »prüfen, ob sie von Gott seien«, um die Fehler, die wir begehen, erkennen zu können. Es bedürfte sogar übermenschlicher Intelligenz, um den listigen Fallstricken Satans zu entgehen. -- Na ja, lieber Carl Gustav Jung. Ich denke, es ist viel einfacher. Warum gleich den Teufel beschwören und moralische Gartenzäune errichten, die zwar Wegweiser sein können, aber von den meisten Menschen bestenfalls als Krücken verwendet werden, die bei jeder opportunen Gelegenheit weggeworfen werden.
Alles, was wir tun und auch denken, wirkt nicht nur auf uns selbst, sondern auch auf unsere Umgebung. Und dies meine ich nicht als moralische Wirkung, sondern rein mechanistisch, wobei ich nicht weiß, welcher Mechanismus da am Werke ist. Ich nehme an, dass es vor allem psychische Faktoren sind, die in ähnlicher Weise wirken, wie ja auch rein körperliche Tätigkeiten den Körper in einer bestimmten Art und Weise ertüchtigen. So sind Verhaltensweisen von Menschen auch ganz ohne moralische Keule erklärbar, wobei natürlich immer eine Einschränkung bleibt: was wir wahrnehmen, ist immer auch ganz stark durch uns selbst geprägt. -- Diese Obliegenheiten schärfen unvermeidlicherweise den Verstand, die Wahrheitsliebe und den Erkenntnisdrang, die ebenso wohl genuine menschliche Tugenden, wie Wirkungen jenes Geistes, der »selbst die Tiefen der Gottheit erforscht«, sein können. Diese intellektuellen und moralischen Kräfte sind selber göttlicher Natur und können und dürfen deshalb nicht abgeschnitten werden. -- Schmarrn. Moral wurde zu Zeiten Jungs vor allem eingebläut und Intelligenz war immer schon eine Mischung von angeborenen Fähigkeiten und ergänzender Förderung. Es ist aber Jung zugute zu halten, dass er noch in einem Umfeld aufgewachsen ist, das ein völlig anderes Verständnis von diesen Dingen hatte. -- Man gerät daher eben gerade durch die Befolgung der christlichen Moral in die ärgsten Pflichtenkollisionen. Nur wer es sich zur Gewohnheit macht, fünfe gerade sein zu lassen, kann diesen entgehen. Die Tatsache, dass christliche Ethik in Pflichtenkollisionen hineinführt, spricht zu ihren Gunsten. Indem sie unlösbare Konflikte und damit eine »afflictio animae« (innerer seelischer Konflikt) erzeugt, bringt sie den Menschen der Gotteserkenntnis näher: aller Gegensatz ist Gottes, darum muss sich der Mensch damit belasten, und indem er es tut, hat Gott mit seiner Gegensätzlichkeit von ihm Besitz ergriffen, d. h. sich inkarniert. Der Mensch wird erfüllt vom göttlichen Konflikt. Wir verbinden mit Recht die Idee des Leidens mit einem Zustand, in welchem Gegensätze schmerzlich aufeinanderprallen, und wir scheuen uns, eine solche Erfahrung als Erlöstheit zu bezeichnen. Jedoch ist nicht zu leugnen, dass das große Symbol des christlichen Glaubens, das Kreuz, an dem die Leidensgestalt des Erlösers hängt, seit beinahe zweitausend Jahren dem Christen eindrücklich vor Augen geführt wird. Ergänzt wird dieses Bild durch die beiden Schächer, von denen der eine in die Hölle fährt, der andere ins Paradies eingeht. Man könnte die Gegensätzlichkeit des christlichen Zentralsymbols wohl nicht besser darstellen. Wieso dieses unvermeidliche Ergebnis der christlichen Psychologie Erlösung bedeuten soll, ist schwierig einzusehen, wenn nicht gerade das Bewusstwerden des Gegensatzes, so schmerzhaft diese Erkenntnis im Moment auch sein mag, die unmittelbare Empfindung der Erlöstheit mit sich führte. Es ist einerseits die Erlösung aus dem qualvollen Zustand dumpfer und hilfloser Unbewusstheit, andererseits das Innewerden der göttlichen Gegensätzlichkeit, deren der Mensch teilhaft werden kann, sofern er sich der Verwundung durch das trennende Schwert, welches Christus ist, nicht entzieht. Eben gerade im äußersten und bedrohlichsten Konflikt erfährt der Christ die Erlösung zur Göttlichkeit, sofern er daran nicht zerbricht, sondern die Last, ein Gezeichneter zu sein, auf sich nimmt. So und einzig auf diese Weise verwirklicht sich in ihm die imago Dei, die Menschwerdung Gottes. Die siebente Bitte des Vaterunser: »Und erlöse uns von dem Bösen« ist dabei in dem Sinne zu verstehen, welcher der Bitte Christi in Gethsemane: »Wenn es möglich ist, so lass diesen Kelch an mir vorübergehen«, zugrunde liegt. Im Prinzip scheint es nämlich nicht der Absicht Gottes zu entsprechen, den Menschen mit dem Konflikt und so mit dem Bösen zu verschonen. Es ist daher zwar menschlich, einen derartigen Wunsch auszusprechen, aber er darf nicht zum Prinzip erhoben werden, weil er sich gegen den göttlichen Willen richtet und nur auf menschlicher Schwäche und Furcht beruht. Letztere ist allerdings in gewissem Sinne berechtigt, denn, um den Konflikt zu vervollständigen, muss der Zweifel und die Unsicherheit bestehen, ob nicht der Mensch am Ende überfordert werde.
Weil das Gottesbild die ganze menschliche Sphäre durchdringt und von der Menschheit unwillkürlich dargestellt wird, so wäre es nicht undenkbar, dass das seit 400 Jahren bestehende Schisma in der Kirche sowohl wie die heutige Zweigeteiltheit der politischen Welt die nicht anerkannte Gegensätzlichkeit des beherrschenden Archetypus ausdrückt. -- Das Gottesbild durchdringt nicht die ganze menschliche Sphäre, sondern nur einen Teil davon, der nicht einmal der größere Teil ist. --
Die traditionelle Auffassung des Erlösungswerkes entspricht einer einseitigen Betrachtungsweise, ob wir diese nun als rein menschlich oder als von Gott: gewollt bezeichnen. Die andere Ansicht, welche das Versöhnungswerk nicht als das Abtragen einer menschlichen Schuld an Gott, sondern vielmehr als die Wiedergutmachung eines göttlichen Unrechtes am Menschen betrachtet, haben wir oben skizziert. Letztere Auffassung scheint mir den tatsächlichen Machtverhältnissen besser angepasst zu sein. Das Schaf kann zwar das Wässerlein für den Wolf trüben, aber diesem keinen anderen Schaden antun. So kann das Geschöpf zwar den Schöpfer enttäuschen, aber es ist kaum glaublich, dass es ihm qualvolles Unrecht anzutun vermöchte. Letzteres liegt nur in der Macht des Schöpfers dem machtlosen Geschöpf gegenüber. Damit wird allerdings der Gottheit ein Unrecht imputiert (Anm.: jemand etwas anrechnen, schuldgeben), was aber kaum schlimmer aussieht, als das, was man ihr zumutet, wenn man annimmt, dass es, nur um den Zorn des Vaters zu beschwichtigen, nötig sei, den Sohn am Kreuz zu Tode zu martern. Was ist das für ein Vater, der lieber den Sohn abschlachtet, als dass er seinen übelberatenen und von seinem Satan verführten Geschöpfen großmütig verzeiht? Was soll mit diesem grausamen und archaischen Sohnesopfer demonstriert werden? Etwa die Liebe Gottes? Oder seine Unversöhnlichkeit? Wir wissen aus Gen. XXII und Exod. XXII, 29, dass Jahwe eine Tendenz hat, solche Mittel, wie Tötung des Sohnes und der Erstgeburt, entweder als Test oder zur Geltendmachung seines Willens anzuwenden, obschon seine Allwissenheit und seine Allmacht derart grausame Prozeduren gar nicht nötig haben, und überdies den Mächtigen auf der Erde damit ein schlechtes Beispiel gegeben wird. Es ist begreiflich, dass ein naiver Verstand Neigung bekundet, vor solchen Fragen Reißaus zu nehmen und diese Notmaßnahme als sacrificium intellectus zu beschönigen. -- Wieder diese Präpotenz von Jung. Aber ich habe einen groben Keil für diesen groben Klotz: Es benötigt schon einen naiven Verstand, alle diese Geschichten für wortwörtliche Wahrheiten zu nehmen. Manchmal habe ich den Eindruck, dass Jung zu jener Spezies Mensch gehört, die es auch heute noch gibt, die annehmen, dass die bloße Tatsache des Aufgeschrieben-Seins so etwas wie einen Wahrheitsanspruch hätte. Unter dem Gesichtspunkt des Wahrheitsanspruchs müssten zahllose Bibliotheksinhalte verbrannt werden. -- Zieht er es also vor, den 89sten Psalm nicht zu lesen, d. h. mit anderen Worten, sich zu drücken, so wird es damit nicht sein Bewenden haben. Wer einmal unterschlägt, wird es wieder tun und zwar bei der Selbsterkenntnis. Letztere aber wird in der Gestalt der Gewissenserforschung von der christlichen Ethik gefordert. Es waren sehr fromme Leute, welche behaupteten, dass Selbsterkenntnis den Weg zur Gotteserkenntnis bereite. -- Dass Selbsterkenntnis etwas mit Gotteserkenntnis zu tun hat ist natürlich dem gläubigen Christen, Juden oder Muslim ebenso selbstverständlich wie dem gläubigen Buddhisten der Dharmabezug der Selbsterkenntnis oder dem Hindu das Weltgesetz oder einer seiner Gottheiten.
Selbsterkenntnis ist kein Akt des Denkens, sondern im Gegenteil das Hintanstellen des Denkens und Fühlens im Stille-Werden. Stille-Werden heißt aber auch, alles EGO hintanzustellen und sich damit dem Lauf des Geschehens zu überlassen. Monotheisten setzen an diese Stelle hinter dem Schweigen Gott ein, da dort das eigene Wollen und Denken aus der Hand gegeben ist und alles, was geschieht außerhalb jeder bewussten Steuerung liegt und jeder Steuerungsversuch dieses Dasein hinter dem Schweigen verschwinden lässt. Zugleich aber sind wir dort alles, was wir sonst auch sind mit all unseren menschlichen Schwächen und Problemen. Er ist nur nicht mehr so wichtig, weil wir uns aus der Hand gegeben haben. Und Demut ist dort keine Willensakrobatik oder Unterwerfung, sondern ganz selbstverständlich. Und nichts muss mehr erklärt werden, weil alles klar ist. --

 
XI

Der Glaube an Gott als das Summum Bonum ist einem reflektierenden Bewusstsein unmöglich. Es fühlt sich keineswegs von der Gottesfurcht erlöst und fragt sich daher mit Recht, was ihm Christus eigentlich bedeute. Das ist in der Tat die große Frage: kann Christus heute überhaupt noch interpretiert werden? Oder muss man sich mit der historischen Deutung begnügen?
Eines lässt sich wohl nicht bezweifeln: Christus ist eine höchst numinose Figur. Damit steht die Deutung als Gott und Gottessohn im Einklang. Die alte Anschauung, die auf seine eigene Auffassung zurückgeht, behauptet, dass er zur Errettung des von Gott bedrohten Menschen in die Welt gekommen, gelitten habe und gestorben sei. Außerdem bedeute seine leibliche Auferstehung, dass alle Gotteskinder dieser Zukunft gewiss seien.
Wir haben bereits zur Genüge darauf hingewiesen, wie seltsam sich die Rettungsaktion Gottes ausnimmt. Er tut ja in der Tat nichts anderes, als dass er selber in der Gestalt seines Sohnes die Menschheit vor sich selber errettet. Dieser Gedanke ist so skurril wie die alte rabbinische Anschauung von Jahwe, der die Gerechten vor seinem Zorn unter seinem Thron verbirgt, wo er sie nämlich nicht sieht. Es ist geradezu so, als ob Gottvater ein anderer Gott wäre, als der Sohn, was aber keineswegs die Meinung ist. Es besteht auch keine psychologische Notwendigkeit zu einer derartigen Annahme, denn die unzweifelhafte Unreflektiertheit des göttlichen Bewusstseins genügt zur Erklärung seines merkwürdigen Verhaltens. Mit Recht gilt darum die Gottesfurcht als der Anfang aller Weisheit. Auf der anderen Seite darf man die hochgepriesene Güte, Liebe und Gerechtigkeit Gottes nicht als bloße Propitiierung auffassen, sondern man muss sie als genuine Erfahrung anerkennen, denn Gott ist eine coincidentia oppositorum (Anm.: Zusammenfall der Gegensätze). Beides ist berechtigt: die Furcht vor und die Liebe zu Gott. -- Der Mensch ist eine coincidentia oppositorum. Tatsächlich enthält jeder Mensch alle Gegensätzlichkeiten in sich und muss damit leben und sich je nach Situation entscheiden. Es gibt nicht DEN guten oder DEN schlechten Menschen, außer man lügt sich hoffnungslos in die eigene Tasche. Selbst sogenannte „erleuchtete“ Menschen oder wie ich es aus rationalen Gründen viel lieber bezeichne, Menschen mit der Erfahrung hinter dem Schweigen sind nur sicher über das je Gute und das je Schlechte und das ist kein allgemeines theoretisches Axiom, sondern eine sich je einstellende Gewissheit im Handeln. Ich meine, dass es wichtig ist, dies so zu sagen, da so viele westliche und auch östliche Menschen den Begriff Erleuchtung „mystisch umwolken“, sodass zum Schluss nur verrückte Vorstellungen überbleiben, obwohl sogar die alten Meister sich da sehr oft sehr klar geäußert haben und insbesondere die Zenmeister auf solche Vorstellungen mit Prügeln, Zurückweisung oder Spott geantwortet haben. Aus dieser Warte sind viele so diffizile Überlegungen von Jung in dieser Schrift nichts als „Scheiße kneten“.--
Einem differenzierteren Bewusstsein muss es auf die Dauer schwer ankommen, einen Gott als gütigen Vater zu lieben, den man wegen seines unberechenbaren Jähzorns, seiner Unzuverlässigkeit, Ungerechtigkeit und Grausamkeit fürchten muss. -- Anthropomorphie -- Dass der Mensch allzumenschliche Inkonsequenzen und Schwächen an seinen Göttern nicht schätzt, hat der Verfall der antiken Götter zur Genüge bewiesen. So hat wohl auch die moralische Niederlage Jahwes Hiob gegenüber ihre geheimen Folgen gehabt: einerseits die unbeabsichtigte Erhöhung des Menschen, andererseits eine Beunruhigung des Unbewussten. Erstere Wirkung bleibt zunächst eine bewusst nicht realisierte, bloße Tatsache, welche aber vom Unbewussten registriert wurde. Das ist mit ein Grund für die Beunruhigung des Unbewussten, denn es erhält dadurch eine gegenüber dem Bewusstsein erhöhte Potenzialität: im Unbewussten ist der Mensch dann mehr als im Bewusstsein. Unter diesen Umständen entwickelt sich ein Gefälle vom Unbewussten zum Bewusstsein hin, und ersteres bricht in Gestalt von Träumen, Visionen und Offenbarungen in letzteres ein. Leider ist eine Datierung von Hiob unsicher. Er fällt, wie erwähnt, in die Zeitspanne von 600-300 a. Chr. n. In der ersten Hälfte des VI. Jahrhunderts tritt Ezechiel auf (Seine Berufungsvision fallt auf das Jahr 592), der Prophet mit den sog. »pathologischen« Zügen, womit in laienhafter Weise seine Visionen gekennzeichnet werden. Als Psychiater muss ich ausdrücklich hervorheben, dass die Vision und ihre Begleiterscheinungen nicht unkritisch als krankhaft bewertet werden dürfen. Sie ist, wie der Traum, ein zwar seltenes aber natürliches Vorkommnis und darf nur dann als »pathologisch« bezeichnet werden, wenn ihre krankhafte Natur erwiesen ist. Rein klinisch betrachtet sind die Visionen Ezechiels von archetypischer Natur und in keinerlei Weise krankhaft verzerrt. Es besteht kein Anlass, sie für pathologisch anzusehen (Es ist überhaupt ein Irrtum anzunehmen, eine Vision sei eo ipso krankhaft. Sie kommt als Phänomen bei Normalen zwar nicht häufig, aber auch nicht zu selten vor). Sie bilden ein Symptom dafür, dass damals ein vom Bewusstsein einigermaßen getrenntes Unbewusstes bereits vorhanden war. Das erste große Gesicht besteht in zwei wohlgeordneten und zusammengefassten Quaternitäten, d.h. Ganzheitsvorstellungen, wie wir sie auch heute noch vielfach als spontane Phänomene beobachten. Ihre quinta essentia ist dargestellt durch eine »Gestalt, wie ein Mensch anzusehen«. Ezechiel hat hier den wesentlichen Inhalt des Unbewussten geschaut, nämlich die Idee des höheren Menschen, vor dem Jahwe moralisch unterlag und zu dem er später werden wollte.
Ein sozusagen gleichzeitig in Indien auftretendes Symptom derselben Tendenz ist Gotamo Buddha (geb. 162 a. Chr. n.), welcher der maximalen Differenzierung des Bewusstseins die Suprematie (Anm. Machtvollkommenheit) auch über die höchsten Brahmagötter zusprach. Diese Entwicklung stellt eine logische Konsequenz aus der Purusha-Atmanlehre dar und stammt aus der inneren Erfahrung der Yogapraxis.
Ezechiel hat die Annäherung Jahwes an den Menschen im Symbol erfasst, was Hiob zwar erlebt, aber wahrscheinlich nicht gewusst hat; nämlich dass sein Bewusstsein höher steht als dasjenige Jahwes, und dass infolge dessen Gott Mensch werden will. Zudem tritt bei Ezechiel zum ersten Mal der Titel »Menschensohn« auf, mit dem Jahwe bezeichnenderweise den Propheten anredet und damit vermutlich andeutet, dass er ein Sohn des »Menschen« auf dem Throne ist; eine Präfiguration der viel späteren Christusoffenbarung! Mit größtem Recht daher sind die vier Seraphim des Gottesthrones zu den Evangelistenemblemen geworden, denn sie bilden die Quaternität, welche die Ganzheit Christi ausdrückt, wie die Evangelien die vier Säulen seines Thrones darstellen.
Die Beunruhigung des Unbewussten dauert mehrere Jahrhunderte lang an. Daniel (um 165 a. Chr. n.) hat ein Gesicht mit vier Tieren und dem »Hochbetagten« (dem »Alten der Tage«), »zu dem mit den Wolken des Himmels einer kam, der einem Menschensohn gliche. Hier ist der »Menschensohn« nicht mehr der Prophet, sondern, unabhängig von diesem, ein Sohn des »Hochbetagten«, dem die Aufgabe zukommt, den Vater zu verjüngen.
Ausführlicher ist das um 100 a. Chr. n. zu datierende Buch Henoch. Es gibt uns einen aufschlussreichen Bericht über jenen präfigurierenden Vorstoß der Gottessöhne in die Menschenwelt, welchen man als »Engelsturz« bezeichnet hat. Während nach der Genesis Jahwe damals beschloss, dass sein Geist nicht mehr, wie bisher, viele hundert Jahre im Menschen auf Erden leben sollte, verliebten sich die Gottessöhne (kompensatorisch!) in die schönen Menschentöchter. Das geschah zu der Zeit der Riesen. Henoch weiß, dass 200 Engel unter Anführung des Semjasa auf die Erde herunterstiegen, nachdem sie sich untereinander verschworen hatten, Menschentöchter zu Weibern nahmen und mit diesen 3000 Ellen lange Riesen zeugten. Die Engel, unter denen sich Asasel besonders auszeichnete, lehrten den Menschen Wissenschaften und Künste. Sie erwiesen sich als besonders fortschrittliche Elemente, welche das menschliche Bewusstsein erweiterten und entwickelten, wie schon der böse Kain gegenüber Abel den Fortschritt repräsentiert hatte. Sie vergrößerten dadurch die Bedeutung des Menschen ins »Riesenhafte«, was auf eine Inflation des damaligen Kulturbewusstseins hindeutet. Eine Inflation ist aber immer von einem Gegenschlag des Unbewussten bedroht, der dann auch in der Gestalt der Sintflut eintrat. Zuvor aber »verzehrten« die Riesen »den Erwerb der Menschen“ und begannen sodann diese selber aufzufressen, während die Menschen ihrerseits die Tiere auffraßen, so dass »die Erde sich über die Ungerechten beklagte«.
Die Invasion der Menschenwelt durch die Gottessöhne hatte also bedenkliche Folgen, welche die von Jahwe ergriffenen Vorsichtsmaßnahmen vor seinem ,eigenen Erscheinen in der Menschenwelt um so begreiflicher machen. Der Mensch war eben der göttlichen Übermacht nicht von ferne gewachsen. Es ist nun von höchstem Interesse, zu verfolgen, wie sich Jahwe in dieser Angelegenheit verhielt. Es handelte sich, wie das spätere drakonische Urteil beweist, um eine nicht unwesentliche Affäre in der himmlischen Ökonomie, als nicht weniger als 200 Gottessöhne den väterlichen Hofstaat verließen, um auf eigene Faust in der Menschenwelt zu experimentieren. Man sollte annehmen, dass dieser Exodus en masse sofort ruchbar geworden wäre (ganz abgesehen von der göttlichen Allwissenheit). Aber nichts dergleichen geschah. Erst nachdem die Riesen schon längst gezeugt und bereits daran waren, die Menschen totzuschlagen und aufzufressen, hörten, wie zufällig, vier Erzengel das Klagegeschrei der Menschen und entdeckten nun, was auf Erden geschah. Man weiß wirklich nicht, worüber man sich mehr wundern soll, über die lose Organisation der Engelchöre oder über die mangelhafte Information im Himmel. Sei dem, wie ihm wolle, diesmal fühlten sich die Erzengel doch veranlasst, mit folgender Rede vor Gott zu treten: »Alles ist vor Dir aufgedeckt und offenbar; Du siehst alles, und nichts kann sich vor Dir verbergen. Du hast gesehen, was Asasel getan hat, wie er allerlei Ungerechtigkeit auf Erden gelehrt und die himmlischen Geheimnisse der Urzeit geoffenbart hat . . . Die Beschwörungen hat Semjasa gelehrt, dem Du die Vollmacht gegeben hast, die Herrschaft über seine Genossen zu üben .. . Du aber weißt alles, bevor es geschieht. Du siehst dies und lässest sie gewähren und sagst nicht, was wir deswegen mit ihnen tun sollen.«
Entweder ist das, was die Engel sagen, gelogen, oder Jahwe hat aus seiner Allwissenheit unbegreiflicherweise keine Schlüsse gezogen, oder die Engel müssen ihn daran erinnern, dass er es wieder einmal vorgezogen hat, von seiner Allwissenheit nichts zu wissen. Auf alle Fälle löst erst ihre Intervention eine umfassende Racheaktion aus, aber keine wirklich gerechte Strafe, denn er ersäuft gleich die ganze lebendige Kreatur mit Ausnahme von Noah und dessen Angehörigen. Dieses Intermezzo beweist, dass die Gottessöhne irgendwie vigilanter (Anmerkg.: aufgeweckt, flink, frisch, gewandt, hurtig, munter, wach), fortschrittlicher und bewusster als ihr Vater sind. Umso höher ist die spätere Wandlung Jahwes zu veranschlagen. Die Vorbereitungen zu seiner Inkarnation machen tatsächlich den Eindruck, dass er aus der Erfahrung gelernt hat und bewusster zu Werke geht als früher. Zu dieser Bewusstseinsvermehrung trägt unzweifelhaft die Wiedererinnerung an die Sophia bei. Parallel damit wird auch die Offenbarung der metaphysischen Struktur expliziter. Wahrend wir bei Ezechiel und Daniel nur Andeutungen über die Quaternität und den Menschensohn finden, gibt Henoch ausführliche und klare Berichte in dieser Hinsicht. Die Unterwelt, eine Art Hades, ist in vier Räume geteilt, welche zum Aufenthalt der Totengeister bis zum Endgericht dienen. Drei dieser Räume sind dunkel, und einer ist hell und enthält eine »helle Wasserquelle«. Das ist der Raum für die Gerechten.
Mit Aussagen dieser Art gerät man in ein ausgesprochen psychologisches Gebiet, nämlich in die Mandalasymbolik, wohin auch die Proportionen 1:3 und 3:4 gehören. Der viergeteilte Hades des Henoch entspricht einer chthonischen Quaternität, die man wohl stets als im Gegensatz zu einer pneumatischen oder himmlischen stehend vermuten darf. Erstere entspricht in der Alchemie dem Elementenquaternio, letztere einem vierfachen, d. h. ganzheitlichen Aspekt der Gottheit, wie z. B. Barbelo, Kolorbas, Mercurius quadratus oder die viergesichtigen Götter andeuten.
In der Tat erblickt Henoch die vier »Gesichter« Gottes. Drei davon beschäftigen sich mit Lobpreisen, Beten und Bitten, das vierte aber »wehrte die Satane ab und gestattete ihnen nicht, vor den Herrn der Geister zu treten, um die Bewohner des Festlandes anzuklagen«.
Die Vision stellt eine wesentliche Differenzierung des Gottesbildes dar: Gott hat vier Gesichter, bzw. vier Engel des Angesichtes, d. h. vier Hypostasen oder Emanationen, wovon die eine ausschließlich damit beschäftigt ist, den in eine Mehrzahl verwandelten Gottessohn älteren Datums, Satan, in Übereinstimmung mit unserer obigen Konstatierung, von Gott fernzuhalten und weitere Experimente im Stile des Hiobbuches zu verhindern. Noch befinden sich die Satane im himmlischen Bereich, denn der Sturz Satans ist: noch nicht eingetreten. Die oben erwähnten Proportionen sind auch hier dadurch angedeutet, dass drei Engel heilige, bzw. wohltätige Funktionen ausüben, der vierte aber ist streitbar, denn er muss Satan abwehren.
Diese Quaternität ist ausgesprochen pneumatischer Natur, daher durch Engel ausgedrückt, die meist als gefiederte Wesen vorgestellt werden, also als Luftwesen, was hier darum besonders wahrscheinlich ist, als sie von den vier Seraphim des Ezechiel abstammen dürften. Die Verdoppelung und Trennung der Quaternität in eine obere und eine untere weist auf eine bereits eingetretene metaphysische Spaltung hin, ebenso wie die Fernhaltung der Satane vom himmlischen Hofe. Die pleromatische (Anm. (griech., "Fülle"), bei den Gnostikern Glanz-, Lichtmeer, als Sitz der Gottheit) Spaltung ihrerseits aber stellt das Symptom einer weit tiefer gehenden Spaltung im göttlichen Willen dar: der Vater will Sohn, Gott Mensch, der Amoralische ausschließlich gut und der Unbewusste bewusst verantwortlich werden. Aber all dies befindet sich erst in statu nascendi.
Das Unbewusste Henochs ist davon gewaltig erregt und offenbart seine Inhalte in apokalyptischen Visionen. Zudem veranlasst es ihn zur »peregrinatio«, zur Reise nach den vier Himmelsgegenden und zur Mitte der Erde, womit er selber durch seine Bewegungen ein Mandala zeichnet, in Übereinstimmung mit den »Reisen« der alchemistischen Philosophen und den entsprechenden Phantasien des modernen Unbewussten.
Als Jahwe den Ezechiel mit »Menschensohn« anredete, so war dies .zunächst nicht mehr als eine dunkle und unverständliche Andeutung. Hier aber wird es klar: Henoch, der Mensch, ist nicht nur Empfänger göttlicher Offenbarung, sondern er wird zugleich in das göttliche Drama miteinbezogen, wie wenn er zum mindesten einer der Gottessöhne wäre. Man kann dies wohl nicht anders verstehen, als dass im gleichen Maße, in dem Gott Mensch zu werden sich anschickt, der Mensch in das pleromatische Geschehen eingetaucht, sozusagen darin getauft und der göttlichen Quaternität teilhaft gemacht (d. h. mit Christus gekreuzigt) wird. Darum wird noch heute bei dem Ritus der benedictio fontis (Taufwasserweihe) das Wasser durch die Hand des Priesters kreuzweise geteilt und davon etwas nach den vier Himmelsgegenden ausgeschüttet.
Henoch erweist sich als dermaßen vom göttlichen Drama ergriffen und beeinflusst, dass man von ihm ein ganz besonderes Verständnis der kommenden Gottesinkarnation beinahe voraussetzen kann: der bei dem »Hochbetagten« befindliche »Menschensohn« sieht einem Engel (d. h. einem der Gottessöhne) gleich. Er »hat die Gerechtigkeit«; »bei ihm wohnt die Gerechtigkeit«; der Herr der Geister hat ihn »auserwählt«; »sein Los hat alles durch Rechtschaffenheit übertroffen.« Es ist wohl kein Zufall, dass gerade die Gerechtigkeit so sehr hervorgehoben wird, denn sie ist jene Eigenschaft, deren Jahwe ermangelt, was einem Manne wie dem Verfasser des Buches Henoch kaum verborgen geblieben ist. Unter der Herrschaft des Menschensohnes wird »das Gebet des Gerechten« erhört, und das Blut des Gerechten vor dem Herrn der Geister gerächt«. Henoch erblickt einen »Brunnen der Gerechtigkeit, der unerschöpflich war«. Der Menschensohn »wird ein Stab für die Gerechten und Heiligen sein«. »Zu diesem Zwecke war er auserwählt und verborgen vor ihm (Gott), bevor die Welt geschaffen wurde, und (er wird) bis in Ewigkeit vor ihm (sein). Die Weisheit des Herrn der Geister hat ihn . . . geoffenbart, denn er bewahrt das Los der Gerechten.« »Denn Weisheit ist wie Wasser ausgegossen ...«. »Denn er ist mächtig über alle Geheimnisse der Gerechtigkeit, und Ungerechtigkeit wird wie ein Schatten vergehen.« »In ihm wohnt der Geist der Weisheit und der Geist dessen, der Einsicht gibt, und der Geist der Lehre und Kraft ...«
Unter der Herrschaft des Menschensohnes wird »die Erde die, welche in ihr angesammelt sind, zurückgeben und auch die Scheol wird wiedergeben, was sie empfangen hat, und die Hölle wird, was sie schuldet, herausgeben«. »Der Auserwählte wird in jenen Tagen auf meinem Throne sitzen, und alle Geheimnisse der Weisheit werden aus den Gedanken seines Mundes hervorkommen.« »Alle werden Engel im Himmel werden.« Asasel und seine Scharen werden in den Feuerofen geworfen, weil »sie dem Satan untertan wurden und die Erdenbewohner verführten«.
In der Endzeit hält der Menschensohn Gericht über alle Geschöpfe. Sogar »die Finsternis wird vernichtet« und »unaufhörlich wird das Licht sein«. Selbst die beiden großen Beweisstücke Jahwes müssen dran glauben: der Leviathan und der Behemoth werden zerteilt und aufgegessen. An dieser Stelle (60, 10) wird Henoch vom offenbarenden Engel mit dem Titel »Menschensohn« angesprochen; ein Anzeichen mehr dafür, dass er, ähnlich wie Ezechiel, vom göttlichen Mysterium assimiliert, bzw. in dasselbe einbezogen wird, was übrigens schon die bloße Tatsache, dass er Zeuge desselben ist, andeutet. Henoch wird entrückt und nimmt seinen Sitz im Himmel ein. Im »Himmel der Himmel« sieht er das Haus Gottes aus Kristall, das von Feuer umströmt und von den nie schlafenden gefiederten Wesen bewacht ist. Der »Betagte« mit der Quaternität (Michael, Gabriel, Raphael, Phanuel) tritt heraus und spricht zu ihm: »Du bist der Mannessohn, der zur Gerechtigkeit geboren wird; Gerechtigkeit wohnt über dir und die Gerechtigkeit des betagten Hauptes verlässt dich nicht.«
Es ist bemerkenswert, dass der Menschensohn und seine Bedeutung immer wieder mit der Gerechtigkeit zusammengebracht wird. Sie scheint ein Leitmotiv und Hauptanliegen zu sein. Nur wo Ungerechtigkeit droht oder schon geschehen ist, hat eine derartige Betonung der Gerechtigkeit einen Sinn. Niemand, nur Gott, kann in nennenswerter Weise Gerechtigkeit austeilen und gerade in Bezug auf ihn besteht berechtigterweise die Furcht, er möchte seine Gerechtigkeit vergessen. In diesem Falle würde dann sein gerechter Sohn bei ihm für die Menschen eintreten. So werden »die Gerechten Frieden haben«. Die Gerechtigkeit, die unter dem Sohn herrschen wird, ist dermaßen hervorgehoben, dass der Eindruck entsteht, als ob früher unter der Herrschaft des Vaters das Unrecht den Vorrang gehabt hätte, und erst mit dem Sohne ein Zeitalter des Rechtes angebrochen wäre. Es scheint, als ob Henoch hiermit auf Hiob unbewusst Antwort gäbe.
Die Betonung des Alters Gottes hängt logisch mit der Existenz eines Sohnes zusammen, insinuiert aber auch den Gedanken, dass er etwas in den Hintergrund treten und dem Sohne die Regierung der Menschenwelt mehr und mehr überlassen werde, woraus eine gerechtere Ordnung erhofft wird. Man sieht aus alledem, dass irgendwo ein seelisches Trauma, die Erinnerung an eine himmelschreiende Ungerechtigkeit, nachwirkt und das Vertrauensverhältnis zu Gott trübt. Gott selber will einen Sohn haben, und man wünscht sich einen Sohn, dass er den Vater ersetze. Dieser Sohn muss, wie wir zur Genüge sehen, unbedingt gerecht sein und dies vor allen anderen Tugenden. Gott und Mensch wollen der blinden Ungerechtigkeit entgehen.
Henoch erkennt sich in der Ekstase als Menschensohn bzw. Gottes Sohn, obschon ihn weder Geburt noch Vorbestimmung ausersehen zu haben scheinen. Er erlebt jene göttliche Erhöhung, die wir bei Hiob bloß vermuteten, bzw. als unvermeidlich erschlossen. Hiob selbst ahnt etwas derartiges, wenn er bekennt: »Ich weiß, dass mein Anwalt lebt.« Diese höchst merkwürdige Äußerung kann sich, unter den damaligen Umständen, nur auf den gütigen Jahwe beziehen. Die traditionelle christliche Deutung dieser Stelle als einer Antizipation Christi besteht aber insofern zu Recht, als Jahwes wohlwollender Aspekt als eigene Hypostase sich im Menschensohn inkarniert, und dieser sich bei Henoch als ein Vertreter der Gerechtigkeit und im Christentum als Rechtfertiger des Menschen erweist. Zudem ist der Menschensohn präexistent, darum kann sich Hiob wohl auf ihn berufen. Wie der Satan die Rolle des Anklägers und Verleumders, so spielt Christus, der andere Gottessohn, die Rolle des Anwaltes und Verteidigers.
Trotz Widerspruch hat man begreiflicherweise in diesen messianischen Vorstellungen Henochs christliche Interpolationen sehen wollen. Aus psychologischen Gründen scheint mir dieser Verdacht aber ungerechtfertigt zu sein. Man sollte sich nur Rechenschaft darüber geben, was die Ungerechtigkeit, ja Amoralität Jahwes einem frommen Denker bedeuten musste! Es war ein allerschwerstes Stück, mit einer derartigen Gottesvorstellung belastet zu sein. Noch ein spätes Zeugnis erzählt uns von einem frommen Menschen, der nie den 89sten Psalm lesen konnte, »weil er ihm zu schwer fiel«. Wenn man berücksichtigt, mit welcher Intensität und Ausschließlichkeit nicht nur die Lehre Christi, sondern auch die Kirchenlehre der nachfolgenden Jahrhunderte bis auf den heutigen Tag die Güte des liebenden Vaters im Himmel, die Erlösung von der Angst, das Summum Bonum und die privatio boni vertraten, so kann man daraus ermessen, welche Inkompatibilität die Gestalt Jahwes bedeutet, und wie unerträglich eine derartige Paradoxie dem religiösen Bewusstsein erscheint. Dem war wohl schon immer so seit den Tagen Hiobs.
Die innere Instabilität Jahwes ist Voraussetzung nicht nur der Weltschöpfung, sondern auch des pleromatischen Dramas, dessen tragischen Chor die Menschheit bildet. Die Auseinandersetzung mit der Kreatur wandelt den Schöpfer. In den alttestamentlichen Schriften finden wir vom VI. Jahrhundert an in zunehmendem Maße die Spuren dieser Entwicklung. Die beiden ersten Hauptpunkte bilden die Hiobstragödie einerseits und die Offenbarung des Ezechiel andererseits. Hiob ist der ungerecht Leidende, Ezechiel aber schaut die Vermenschlichung und Differenzierung Jahwes, und durch die Anrede »Menschensohn« wird ihm bereits angedeutet, dass die Inkarnation und Quaternität Gottes sozusagen das pleromatische Vorbild dafür sei, was dem Menschen schlechthin, nicht bloß dem seit Ewigkeit vorgesehenen Gottessohn, durch die Wandlung und Menschwerdung Gottes geschehen werde. Dies erfüllt sich in intuitiver Vorwegnahme bei Henoch. Er wird ekstatisch zum Menschensohn im Pleroma, und seine Entrückung auf dem Wagen (wie Elias) präfiguriert die Totenauferstehung. Zur Erfüllung seiner Rolle als Gerechtigkeitswalter muss er ja in Gottes unmittelbare Nähe gelangen und als präexistenter Menschensohn ist er dem Tode nicht mehr unterworfen. Insofern er aber gewöhnlicher Mensch und daher an sich sterblich war, so kann auch anderen Sterblichen so gut als ihm das Schauen Gottes zustoßen, und sie können ihres Erretters bewusst und damit unsterblich werden.
Alle diese Ideen hätten schon damals auf Grund der bestehenden Voraussetzungen bewusst werden können, wenn nur jemand etwas ernstlich darüber nachgedacht hätte. Dazu brauchte es keine christlichen Interpolationen. Das Buch Henoch antizipierte in großem Stile, aber alles hing noch in der Luft als bloße Offenbarung, die nirgends den Boden erreichte. Man kann Anbetrachts dieser Tatsachen beim besten Willen nicht einsehen, wieso das Christentum, wie man immer wieder hören kann, als absolutes Novum in die Weltgeschichte eingebrochen sei. Wenn etwas je historisch vorbereitet und von den schon bestehenden Anschauungen der Umwelt getragen und unterstützt war, so bildet das Christentum hiefür ein schlagendes Beispiel.
-- Hier ist die Frage zu stellen, ob Jung sich nicht in einer Geschichte verirrt, der ausschließlich er Realität zuweist. Sie wird erst durch seine Darstellung zu einem realen Geschehen. Das Buch Hennoch kann vor dem Erfahrungshintergrund des 20. Jahrhunderts bestenfalls als Phantasie bezeichnet werde, deren Genese unter Beachtung der Randbedingungen ihrer Entstehungszeit durchaus verständlich ist. Jung verirrt sich hier offensichtlich in einer Zusammenschau von Geschichte(n), deren einziges Verbindungsglied die Interpretation durch ihn selbst, Jung, ist. Er generiert also Realität, die ihn unbedingt benötigt, um solche zu sein.---