Samstag, 2. August 2014

Antwort auf "Antwort auf Hiob" von C.G.Jung, letzter Teil


XII

Jesus tritt zunächst als jüdischer Reformator und als Prophet eines ausschließlich guten Gottes auf. Damit rettet er den bedrohten religiösen Zusammenhang. In dieser Beziehung erweist er sich in der Tat als σωτήρ (Retter). Er bewahrt die Menschheit vor dem Verluste der Gottesgemeinschaft und dem Verlorengehen ins bloße Bewusstsein und dessen »Vernünftigkeit«. Das hätte so viel wie eine Dissoziation zwischen dem Bewusstsein und dem Unbewussten bedeutet, also einen unnatürlichen bzw. pathologischen Zustand, einen sog. »Seelenverlust«, von dem der Mensch seit Urzeit immer wieder bedroht ist. Immer wieder und in steigendem Maße gerät er in die Gefahr, die irrationalen Gegebenheiten und Notwendigkeiten seiner Psyche zu übersehen und sich einzubilden, mit Willen und Vernunft alles zu beherrschen, und damit die Rechnung ohne den Wirt zu machen, was am deutlichsten bei den großen sozialpolitischen Bestrebungen, wie Sozialismus und Kommunismus zu sehen ist: unter ersterem leidet der Staat und unter letzterem der Mensch.
Jesus hat, wie ersichtlich, die vorhandene Tradition in seine persönliche Wirklichkeit übersetzt und verkündet die frohe Botschaft: »Gott hat ein Wohlgefallen an der Menschheit. Er ist ein liebender Vater und liebt euch, so wie ich euch liebe, und hat mich als seinen Sohn gesandt, euch von der alten Schuld loszukaufen.« Er selber bietet sich als das Sühnopfer an, welches die Versöhnung mit Gott herbeiführen soll. Je wünschenswerter nun ein wirkliches Vertrauensverhältnis zwischen Gott und Mensch ist, desto mehr muss die Rachsucht und Unversöhnlichkeit Jahwes gegenüber seinen Kreaturen auffallen. Von Gott als dem guten Vater, der die Liebe selber ist, dürfte man verstehende Verzeihung erwarten. Dass aber der suprem (Anm.: machtvollkommene) Gute diesen Gnadenakt sich durch ein Menschenopfer und zwar durch die Tötung seines eigenen Sohnes abkaufen lässt, kommt als unerwarteter Schock. Anscheinend hat Christus diese Antiklimax (rhetorisches Mittel, bei der ein Ausdruck stufenweise abgeschwächt wird) übersehen, jedenfalls haben alle folgenden Jahrhunderte sie ohne Widerspruch hingenommen. Man muss sich vor Augen halten: der Gott des Guten ist dermaßen unversöhnlich, dass er sich nur durch ein Menschenopfer beschwichtigen lässt! Das ist eine Unerträglichkeit, die man heutzutage nicht mehr ohne weiteres schlucken kann, denn man muss schon blind sein, wenn man das grelle Licht, das von hier auf den göttlichen Charakter fällt und das Gerede von Liebe und Summum Bonum Lügen straft, nicht sieht. -- Was heißt hier Licht auf den göttlichen Charakter? Dies ist alles nichts anderes als das real Menschliche, das seiner Widersprüchlichkeit Sinn zu geben versucht. --
Christus erweist sich in doppelter Hinsicht als Mittler: er hilft dem Menschen gegenüber Gott und beschwichtigt die Angst, die man vor diesem Wesen empfindet. Er nimmt eine wichtige Mittelstellung zwischen den zwei schwer vereinbaren Extremen Gott und Mensch ein. Sichtlich verschiebt sich der Focus des göttlichen Dramas auf den vermittelnden Gottmenschen. Ihm fehlt weder das Menschliche noch das Göttliche, deshalb ist er auch schon früh durch ganzheitliche Symbole gekennzeichnet worden, weil er als alles umfassend und als die Gegensätze einend verstanden wird. Ebenso ist ihm die, ein differenziertes Bewusstsein andeutende, Quaternität des Menschensohnes zugedacht worden (vide Kreuz und Tetramorph). Das entspricht im allgemeinen der Vorlage bei Henoch, aber mit einem bedeutenden Abstrich: Ezechiel und Henoch, die beiden Träger des Titels »Menschensohn« sind gewöhnliche Menschen, während Christus schon durch Abstammung,, Zeugung und Geburt ein Heros und Halbgott in antikem Sinne ist ( Infolge der conceptio immaculata (Anm.: unbefleckte Empfängnis) ist schon Maria von den an-deren Sterblichen verschieden, was durch die Assumptio (Himmelfahrt) noch bekräftigt wird). Er ist durch den Hl. Geist jungfräulich gezeugt. Er ist kein kreatürlicher Mensch und hat daher keine Neigung zur Sünde. Die Infektion des Bösen wurde durch die Vorbereitung der Inkarnation bei ihm ausgeschaltet. Christus steht daher mehr auf der göttlichen als auf der menschlichen Seite. Er inkarniert den guten Gotteswillen ausschließlich und steht darum nicht genau in der Mitte, denn das Essentielle des kreatürlichen Menschen, die Sünde, erreicht ihn nicht. Die Sünde ist ursprünglich vom göttlichen Hofstaat her durch Satan in die Schöpfung eingedrungen, worüber Jahwe sich dermaßen erzürnte, dass schließlich sein eigener Sohn geopfert werden musste, um ihn zu versöhnen. Seltsamerweise hat er nicht vor allem Satan aus seiner Umgebung entfernt. Bei Henoch ist ein besonderer Erzengel, Phanuel, damit betraut, die satanischen Einflüsterungen von Jahwe fernzuhalten, und erst in der Endzeit soll Satan als Stern gefesselt in den Abgrund geworfen und vernichtet werden (nicht so in der Apokalypse des Johannes, wo er ewig in seinem Element erhalten bleibt). -- Lieber C.G. Jung. Das ist Unsinn vom Feinsten ---
Obschon im allgemeinen angenommen wird, dass das einmalige Opfer Christi den Fluch der Erbsünde gebrochen und Gott endgültig versöhnt habe, so scheint Christus in dieser Hinsicht doch etwelche Besorgnisse empfunden zu haben. Was wird mit dem Menschen, insbesondere mit seinen Anhängern geschehen, wenn die Herde ihren Hirten verloren hat, und wenn sie den vermissen, der für sie beim Vater eingetreten ist? Er versichert zwar seine Jünger, dass er immer gegenwärtig sein werde, ja, dass er in ihnen selber sei. Trotzdem scheint ihm dies nicht zu genügen, sondern er verspricht ihnen darüber hinaus, an seiner Statt einen anderen παράχλητος (Anwalt, Rechtsbeistand), der ihnen mit Rat und Tat beistehen und ewig bei ihnen bleiben werde, vom Vater her zu senden. Man könnte demnach vermuten, dass die »Rechtslage« noch immer nicht über alle Zweifel hinaus geklärt sei, bzw. noch immer ein Unsicherheitsfaktor bestehe.
Die Sendung des Parakleten (Anm.: Geist der Wahrheit) hat aber noch einen anderen Aspekt. Dieser Geist der Wahrheit und Erkenntnis ist der Hl. Geist, von dem Christus gezeugt worden ist. Er ist der Geist der physischen und geistigen Zeugung, der von nun an in den kreatürlichen Menschen seine Wohnung aufschlagen soll. Da er die dritte Person der Gottheit darstellt, so heißt das soviel, als dass Gott im kreatürlichen Menschen gezeugt werde. Das bedeutet eine gewaltige Veränderung im Status des Menschen, indem er dadurch in gewissem Sinne zur Sohnschaft und zur Gottmenschlichkeit erhoben wird. Damit erfüllt sich die Präfiguration bei Ezechiel und Henoch, wo, wie wir sahen, der Titel »Menschensohn« bereits dem kreatürlichen Menschen verliehen wird. Damit gerät aber der Mensch, trotz seiner ihm anhaftenden Sünde, in die Stellung des Mittlers, des Einigers von Gott und Kreatur. Christus hat diese unabsehbare Möglichkeit wohl im Auge gehabt, als er sagte: »Wer an mich glaubt, der wird die Werke, die ich tue, auch tun und wird größere als diese tun«, und, als er an die Psalmstelle (82, 6) erinnert: »Wohl habe ich gesprochen: Götter seid ihr, ihr alle seid Söhne des Höchsten«, da fügte er bei: »Die Schrift kann nicht aufgelöst werden.«
Die zukünftige Einwohnung des Hl. Geistes im Menschen bedeutet soviel als eine fortschreitende Inkarnation Gottes. Christus als der gezeugte Gottessohn und als präexistenter Mittler ist ein Erstling und ein göttliches Paradigma, das gefolgt wird von weiteren Inkarnationen des Hl. Geistes im wirklichen Menschen. Dieser Mensch aber hat Teil am Dunkel der Welt, und darum entsteht nun mit dem Tode Christi eine kritische Situation, die wohl zu Besorgnissen Anlass geben kann. Bei der Menschwerdung wurde ja das Dunkle und Böse überall sorgfältig draußen gehalten. Henochs Wandlung zum Menschensohn verläuft ganz im Lichten und noch mehr so die Menschwerdung in Christo. Es ist keineswegs wahrscheinlich, dass die Verbindung zwischen Gott und Mensch mit dem Tode Christi abreißt; im Gegenteil wird die Kontinuität dieser Beziehung immer wieder betont und durch die Sendung des Parakleten (Anm.: Geist der Wahrheit) noch ausführlich bestätigt. Je inniger die Verbindung sich aber gestaltet, desto mehr nähert sich der Zusammenstoß mit dem Bösen. Aus einer schon früh bestehenden Ahnung heraus entwickelt sich nun die Erwartung, dass auf die lichte Manifestation eine entsprechend dunkle und auf Christus ein Antichristus folgen werde. Man sollte eine derartige Ansicht nach der metaphysischen Sachlage eigentlich nicht erwarten, denn die Macht des Bösen ist angeblich überwunden, und von einem liebenden Vater kann man nicht voraussetzen, dass er nach der ganzen umfangreichen Heilsveranstaltung in Christo, der Versöhnung und Deklaration der Menschenliebe, seinen bösen Hofhund, in Missachtung alles Vorausgegangenen, wieder auf seine Kinder loslassen könnte. Warum diese enervierende Duldsamkeit gegenüber Satan? Woher die hartnäckige Projektion des Bösen auf die Menschen, die er ja so schwach, anfällig und dumm geschaffen hat, dass sie seinen bösen Söhnen natürlich längst nicht gewachsen sind? Warum das Übel nicht an der Wurzel packen?
Der gute Gotteswille hat einen guten und hilfreichen Sohn gezeugt und das Bild eines guten Vaters von sich geprägt; leider - wie man sagen muss - wieder einmal ohne Berücksichtigung des Umstandes, dass ein Wissen um eine anders lautende Wahrheit vorhanden war. Hätte er sich Rechenschaft über sich selber gegeben, so hätte er sehen müssen, in was für eine Dissoziation er durch seine Menschwerdung gerät. Wo ist denn seine Dunkelheit hingekommen, vermöge welcher Satan stets der verdienten Strafe entgeht? Glaubt er, er sei ganz gewandelt und seine Amoralität sei von ihm abgefallen? Selbst sein lichter Sohn hat ihm in dieser Hinsicht nicht ganz getraut. Nun sendet er gar den »Geist der Wahrheit« zu den Menschen, und diese werden mit diesem bald genug entdecken, was man erwarten muss, wenn Gott sich bloß in seinem lichten Aspekt inkarniert und glaubt, das Gute selber zu sein, oder wenigstens dafür gehalten zu werden wünscht. Man muss sich auf eine Enantiodromie großen Stiles gefasst machen. Das ist wohl der Sinn der Antichristerwartung, welche wir vielleicht eben gerade der Wirksamkeit des »Geistes der Wahrheit« verdanken.
Der Paraklet (Anm.: Geist der Wahrheit) war zwar metaphysisch von größter Bedeutung, aber für die Organisation einer Kirche höchst unerwünscht, denn er entzieht sich, sogar unter Berufung auf die Schriftautorität, jeglicher Kontrolle. Im Gegensatz dazu muss im Interesse der Kontinuität und der Kirche die Einmaligkeit der Menschwerdung und des Erlösungswerkes ebenso energisch betont werden, wie die fortschreitende Einwohnung des Hl. Geistes möglichst decouragiert und ignoriert wird. Man kann keine weiteren individualistischen Digressionen (Anm.: Abweichung, Abschweifung) mehr dulden. Wer sich etwa zu abweichenden Meinungen durch den Hl. Geist bewogen fühlt, wird notwendigerweise zum Ketzer, dessen Bekämpfung und Ausrottung ganz nach dem Geschmacke Satans ausfällt. Allerdings muss man andererseits begreifen, dass, wenn jedermann die Intuitionen seines Hl. Geistes zur Verbesserung der allgemeinen Lehre den anderen hätte aufdrängen wollen, das damalige Christentum wohl in kürzester Frist in einer babylonischen Sprachverwirrung untergegangen wäre -ein Schicksal, das bedrohlich nahe lag.
Dem Parakleten, dem »Geist der Wahrheit«, fallt die Aufgabe zu, in menschlichen Individuen zu wohnen und zu wirken, um sie daran zu erinnern, was Christus gelehrt, und um sie in die Klarheit zu führen. Ein gutes Beispiel für diese Tätigkeit des Hl. Geistes ist Paulus, der den Herrn nicht gekannt und sein Evangelium nicht von den Aposteln, sondern durch Offenbarung empfangen hat. Er gehört zu denen, deren Unbewusstes beunruhigt war und offenbarende Ekstasen verursachte. Das Leben des Hl. Geistes zeigt sich eben darin, dass er tätig ist und Wirkungen hat, welche nicht bloß Vorhandenes bestätigen, sondern noch darüber hinaus führen. So gibt es auch schon in den Äußerungen Christi Anzeichen von Ideen, die über das traditionell »Christliche« hinausgehen, z. B. das Gleichnis vom ungetreuen Haushalter, dessen Moral mit dem Logion des Codex Bezae zu Luc. VI, 4 übereinstimmt und einen anderen ethischen Standpunkt, als den erwarteten, verrät. Das moralische Kriterium bildet hier die Bewusstheit, und nicht Gesetz und Konvention. Man könnte hier auch die eigenartige Tatsache anführen, dass Christus gerade den Petrus, der wenig Selbstbeherrschung und einen wankelmütigen Charakter besitzt, zum Felsen und Fundament seiner Kirche machen will. Dies scheinen mir Züge zu sein, die auf eine Einbeziehung des Bösen in eine moralisch differenzierende Betrachtungsweise hindeuten. Z. B. gut ist, wenn das Böse vernünftigerweise verhüllt wird; böse ist die Unbewusstheit des Handelns. Man könnte fast vermuten, dass solche Ansichten bereits eine Zeit ins Auge fassen, wo neben dem Guten auch das Böse in Betracht fällt, bzw. nicht mehr a limine unterdrückt wird unter der zweifelhaften Annahme, man wisse jeweils ganz genau, was böse ist.
Auch die Antichristuserwartung scheint eine weiterführende Offenbarung oder Entdeckung zu sein, ebenso die bemerkenswerte Feststellung, dass der Teufel trotz Sturz und Exil doch immerhin noch der »Herr dieser Welt« bleibt und in der allumgebenden Luft beheimatet ist. Trotz seinen Missetaten und trotz dem göttlichen Rettungswerk zugunsten der Menschheit hat er doch noch eine beträchtliche Machtposition inne, in deren Bereich die gesamte sublunare Kreatur fällt. Eine derartige Situation kann man nicht anders als kritisch bezeichnen, jedenfalls entspricht sie nicht dem, was man nach dem Inhalt der frohen Botschaft vernünftigerweise hätte erwarten können. Der Böse ist keineswegs angekettet, auch wenn die Tage seiner Herrschaft gezählt sind. Noch immer zögert Gott, dem Satan Gewalt anzutun. Man muss annehmen, dass er offenbar noch immer nicht darum weiß, wie seine eigene dunkle Seite den bösen Engel begünstigt. Dem »Geist der Wahrheit«, der im Menschen seine Wohnung genommen hat, kann diese Sachlage auf die Dauer natürlich nicht verborgen bleiben. Er stört darum das Unbewusste des Menschen und verursacht noch in der christlichen Urzeit eine weitere große Offenbarung, die, um ihrer Dunkelheit willen, in der Folgezeit zu vielen Deutungen und Missdeutungen Anlass gab. Es ist die Offenbarung Johannis.

-- Es ist grandios. Jung unterstellt dem aus zahllosen Schriften durch Entscheidung von kirchlichen Kommissionen komponierten Neuen Testament eine übergeordnete, bzw. innewohnende, offenbarte Wahrheit. Für den Christen Jung mag das noch angehen. Es ist sein Glaube und wird darum von mir auch akzeptiert. Solches aber mit dem nicht direkt ausgesprochenen, aber überall vorhandenen Anspruch von Wissenschaftlichkeit zu verbrämen, ist ziemlich starker Tabak. Damit ist Jung jener Typ von Wissenschaftler, der allein durch die Tatsache seines Forschen für sich selbst Irrtümer ausschließt und sich damit gottähnlichen Status anmaßt. Damit kommt aber durch die Hintertür der Wissenschaft wiederum so etwas wie religiöser Absolutismus in das Leben der Menschen. Jeder Zweifel wird dadurch in den Status einer Sünde gebracht, die auch noch rational begründet wird, obwohl doch Wahrheit niemals etwas anderes als die innere Logik eine Systems ist. Jung ist dafür ein beredtes Zeugnis.---

XIII

Man könnte sich unter dem Johannes der Apokalypse wohl kaum eine geeignetere Persönlichkeit vorstellen, als den Verfasser der Johannesbriefe: dieser bekennt, dass Gott Licht und »keine Finsternis in ihm ist«. (Wer sprach denn davon, dass in Gott etwas Finsteres sei?) Immerhin weiß er, dass, wenn wir sündigen, wir bei Gott einen Fürsprecher brauchen, nämlich Christus, das Sühnopfer, obschon uns die Sünden um seinetwillen bereits vergeben sind. (Warum brauchen wir dann einen Rechtsbeistand?) Der Vater hat uns seine große Liebe geschenkt (wo sie ihm doch durch ein Menschenopfer abgekauft werden musste!), und wir sind die Kinder Gottes. Wer aus Gott gezeugt ist, begeht keine Sünde. (Wer begeht keine Sünde?) Er predigt die Botschaft der Liebe. Gott selbst ist die Liebe. Vollkommene Liebe vertreibt die Furcht. Aber er muss vor falschen Propheten und Irrlehrern warnen, und er ist es, der das Kommen des Antichristus ankündigt. Seine bewusste Einstellung ist orthodox, aber ihm ahnt Böses. Er könnte leicht böse Träume haben, die nicht auf seinem bewussten Programm angemerkt sind. Er spricht so, wie wenn er nicht nur einen sündlosen Zustand, sondern auch eine vollkommene Liebe kennte, unähnlich Paulus, dem es nicht an der nötigen Selbstreflexion fehlt. Johannes ist etwas zu sicher und darum riskiert er eine Dissoziation. Unter solchen Umständen nämlich entsteht im Unbewussten eine Gegenposition, die einmal in Gestalt einer Offenbarung ins Bewusstsein durchbrechen kann. Die Offenbarung wird, wenn sie erfolgt, die Form eines mehr oder weniger subjektiven Mythus haben, weil sie unter anderem die Einseitigkeit eines individuellen Bewusstseins kompensiert; dies im Gegensatz zur Vision eines Ezechiel oder Henoch, deren Bewusstseinslage hauptsächlich durch (unverschuldete) Unwissenheit gekennzeichnet ist und darum durch eine mehr oder weniger objektive und allgemeingültige Gestaltung des archetypischen Materials kompensiert wird.
Diesen Bedingungen entspricht die Apokalypse, soweit wir dies festzustellen vermögen. Schon in der Eingangsvision tritt eine furchterregende Gestalt auf: Christus verschmolzen mit dem »Hochbetagten«, dem Menschen und Menschensohnähnlichen. Aus seinem Munde geht ein »scharfes zweischneidiges Schwert«, das zu Kampf und Blutvergießen tauglicher erscheint als zur Bekundung brüderlicher Liebe. Da Christus ihm sagt: »Fürchte dich nicht«, muss man wohl annehmen, dass Johannes nicht von Liebe überwältigt war, als er »wie tot« hinfiel, sondern vielmehr von Furcht. (Wie steht es hier mit der vollkommenen Liebe, die alle Furcht vertreibt?)
Christus trägt ihm sieben Sendschreiben an die Gemeinden in der Provinz Asia auf. Die Gemeinde in Ephesus wird ermahnt, Buße zu tun, ansonst sie mit der Beraubung des Lichtes bedroht wird. Man erfährt in diesem Schreiben auch, dass Christus die Nicolaiten »hasst«. (Wie verträgt sich das mit der Nächstenliebe?)
Die Gemeinde von Smyrna kommt besser weg. Ihre Gegner sind angeblich Juden, bilden aber »eine Synagoge des Satan«, was nicht gerade freundlich klingt.
Pergamus wird getadelt, weil sich dort ein Irrlehrer bemerkbar macht. Ebenso gibt es dort Nicolaiten. Also soll die Gemeinde Buße tun, »sonst komme ich schnell über dich«, was man wohl als Drohung verstehen muss.
Thyatira lässt die falsche Prophetin Isebel gewähren. Er wird »sie aufs Siechbett werfen« und »ihre Kinder will ich des Todes sterben lassen«. Wer aber bei ihm verharrt, »dem will ich Macht über die Heiden geben, und ,er wird sie mit eisernem Stabe weiden, wie die irdenen Gefäße zerschlagen werden, wie auch ich (solche Macht) von meinem Vater empfangen habe - und ich will ihm den Morgenstern geben«. Christus lehrt wie bekannt: »Liebet eure Feinde«, hier droht er aber mit bethlehemitischem Kindermord!
Die Werke der Gemeinde von Sardes sind nicht vollkommen vor Gott. Darum »tut Buße«! Sonst wird er wie ein Dieb zu unerwarteter Stunde über sie kommen - eine nicht gerade wohlwollende Warnung.
An Philadelphia ist nichts zu tadeln. Laodicea aber will er wegen ihrer Lauheit »ausspeien« aus seinem Munde. Sie soll Buße tun. Bezeichnend ist die Erklärung: »Ich strafe und züchtige alle, die ich lieb habe.« Es wäre begreiflich, wenn sich jemand nicht zu viel von dieser »Liebe« wünschte.
Fünf von den sieben Gemeinden erhalten schlechte Zensuren. Dieser apokalyptische »Christus« benimmt sich eher wie ein übelgelaunter, machtbewusster »Boss«, der durchaus dem »Schatten« eines die Liebe predigenden Bischofs gleicht.
Wie zur Bestätigung des Gesagten folgt eine Gottesvision im Stile Ezechiels. Aber der, der auf dem Throne sitzt, sieht nicht gerade einem Menschen ähnlich, sondern »war seinem Ansehen nach gleich einem Jaspis und Karneolstein«. Vor ihm war ein »gläsernes Meer, gleich Kristall«. Um den Thron stehen die vier »Wesen« (ξώα, animalia), welche überall, vorne und hinten, außen und innen mit Augen bedeckt sind. Das Symbol des Ezechiel ist in seltsamer Weise modifiziert: Stein, Glas, Kristall, lauter tote und starre Dinge charakterisieren die Gottheit, Stoffe, die dem anorganischen Reiche entstammen. Man denkt unwillkürlich an die Präokkupation der nachfolgenden Zeiten, wo der geheimnisvolle »Mensch«, der »homo altus« als λιδος ού λιδος (lidos oy lidos: Stein kein Stein) bezeichnet wurde, und wo im Meere des Unbewussten die vielen »Augen« aufleuchteten (Dies ist eine Anspielung auf die »Luminosität« der Archetypen.). Jedenfalls kommt hier johanneische Psychologie herein, welche Witterung von einem Jenseits des christlichen Kosmos erhalten hat.
Hierauf folgt die Eröffnung des mit sieben Siegeln verschlossenen Buches durch das »Lamm«. Letzteres hat die menschlichen Züge des »Hochbetagten« abgelegt und erscheint in rein theriomorpher, aber monströser Form, wie eines der vielen anderen gehörnten Tiere der Apokalypse: es hat sieben Augen und sieben Hörner, ist darum nicht lamm-, sondern widderähnlich und muss überhaupt ziemlich übel ausgesehen haben. Obschon es als »wie geschlachtet« dargestellt wird, so benimmt es sich in der Folge doch keineswegs als unschuldiges Opfer, sondern recht lebhaft. Aus den vier ersten Siegeln entlässt es die vier unheilvollen apokalyptischen Reiter. Beim fünften Siegel hört man das Rachegeschrei der Märtyrer (»Wie lange, heiliger und wahrhaftiger Herr, richtest du nicht und rächst unser Blut nicht an denen, die auf Erden wohnen? «) Das sechste Siegel bringt eine kosmische Katastrophe, und alles verbirgt sich »vor dem Zorn des Lammes. Denn gekommen ist der große Tag seines Zorns ...« Man erkennt das sanfte Lamm, das sich ohne Widerstand zur Schlachtbank führen lässt, nicht wieder, wohl aber den streit- und reizbaren Widder, dessen Wut nun endlich loslegen kann. Ich sehe darin weniger ein metaphysisches Geheimnis, als zunächst einmal den Ausbruch längst aufgestauter negativer Gefühle, die man bei Vollkommen-sein-Wollenden häufig beobachtet. Man darf es bei dem Verfasser der johanneischen Briefe als selbstverständlich voraussetzen, dass er sich alle Mühe gibt, das, was er den Mitchristen predigt, auch bei sich vorbildlich wahrzumachen. Zu diesem Zwecke muss er alle negativen Gefühle ausschalten, und infolge eines hilfreichen Mangels an Selbstreflexion kann er sie vergessen. Sie sind zwar von der Bildfläche des Bewusstseins verschwunden, wuchern aber unter der Decke weiter und erzeugen mit der Zeit ein ausgedehntes Gespinst von Ressentiments und Rachegedanken, die dann einmal offenbarungsweise über das Bewusstsein hereinbrechen. Daraus entsteht ein schreckenerregendes Gemälde, das allen Vorstellungen von christlicher Demut, Duldsamkeit, Nächsten- und Feindesliebe, von einem liebenden Vater im Himmel und einem menschenrettenden Sohn und Heiland ins Gesicht schlägt. Eine wahre Orgie von Hass, Zorn, Rache und blinder Zerstörungswut, die sich an phantastischen Schreckgebilden nicht genugtun kann, bricht aus und überschwemmt mit Blut und Feuer eine Welt, die man eben noch zu dem ursprünglichen Status der Unschuld und der Liebesgemeinschaft mit Gott zu erlösen sich bemüht hat.
Die Eröffnung des siebenten Siegels bringt natürlich eine neue Flut von Miseren, welche die unheilige Phantasie des Johannes zu erschöpfen drohen. Wie zur Stärkung muss er nun ein Büchlein verschlingen, um weiter »prophezeien« zu können.
Als der siebente Engel endlich ausgeblasen hat, erscheint am Himmel, nach der Zerstörung Jerusalems, das Sonnenweib, das den Mond unter den Füßen und einen Kranz von zwölf Sternen auf seinem Haupte hat. Es ist in Geburtsnöten, und vor ihm liegt der feuerrote Drache, der sein Kind verschlingen will.
Diese Vision fällt aus der Reihe. Während man bei den bisherigen Bildern sich nur schwer dem Eindruck, dass sie einer nachträglichen, ordnenden und ausschmückenden Bearbeitung unterzogen wurden, entziehen kann, hat man bei diesem Stück das Gefühl, dass es ursprünglich und auf keinen erzieherischen Zweck ausgerichtet sei. Die Vision ist eingeleitet durch die Eröffnung des Tempels im Himmel und das Sichtbarwerden der Bundeslade. Dies ist wohl ein Vorspiel zum Herabkommen der himmlischen Braut Jerusalem, eines Äquivalents der Sophia, denn es handelt sich hier um ein Stück des himmlischen Hierosgamos, dessen Frucht ein göttlicher Knabe ist. Hier müssen wir für einen Augenblick bei der Gestalt der Mutter verweilen. Sie ist »ein Weib, angetan mit der Sonne«. Man beachte die einfache Konstatierung »ein Weib«, eine Frau schlechthin, keine Göttin und keine ewige Jungfrau, die unbefleckt empfangen wurde. Es sind keinerlei Maßnahmen bemerkbar, welche sie ihrer vollständigen Weiblichkeit entheben würden, allerdings mit der Ausnahme der ihr beigegebenen kosmisch-naturhaften Attribute, die sie zu einer anima mundi (Weltseele), dem kosmischen Urmenschen ebenbürtig, stempeln. Sie ist der weibliche Urmensch, das Gegenstück des Urmännlichen, wozu sich das Motiv der heidnischen Leto vorzüglich eignet, denn in der griechischen Mythologie mischt sich noch gleichwertig Matriarchales mit Patriarchalem. Oben die Sterne, unten der Mond, in der Mitte die Sonne, der Horus des Aufganges und der Osiris des Unterganges, rings umgeben von der mütterlichen Nacht, ούρανός άνω, ούρανός χάτω – (oyranos ano, oyranos xato: Himmel oben, Himmel unten) dieses Symbol enthüllt das ganze Geheimnis des »Weibes«: sie enthält in ihrem Dunkel die Sonne des »männlichen« Bewusstseins, die als Kind dem Nachtmeer des Unbewussten entsteigt und als Greis darein versinkt. Sie fügt zum Hellen das Dunkle, sie bedeutet den Hierosgamos der Gegensätze und versöhnt die Natur mit dem Geiste.
Der Sohn, der dieser himmlischen Hochzeit entspringt, ist notwendigerweise eine complexio oppositorum (Anm.: Vereinigung der Gegensätze), ein vereinigendes Symbol, eine Ganzheit des Lebens. Gewiss nicht ohne Grund macht hier das Unbewusste des Johannes eine Anleihe bei der griechischen Mythologie, um das eigenartige eschatologische Erlebnis zu schildern: es soll nämlich nicht mit der Geburt des Christusknaben, die, unter ganz anderen Umständen, schon längst zuvor erfolgt war, verwechselt werden. Der neugeborene Knabe wird zwar, in offenkundiger Anlehnung an das »zornige« Lamm, d. h. an den apokalyptischen Christus, als ein Duplikat desselben, nämlich als einer, der »die Heiden mit eisernem Stabe weiden« soll, charakterisiert. Er wird also an die vorherrschenden Hass- und Rachegefühle assimiliert, so dass es den Anschein hat, als ob er, überflüssigerweise, das Strafgericht noch in einer fernen Zukunft fortsetzen würde. Das passt insofern nicht, als das Lamm bereits mit dieser Aufgabe betraut ist und letztere, im Verlaufe der Offenbarung, auch zu Ende führt, ohne dass der neugeborene Knabe irgendwann eine Gelegenheit zu eigenem Handeln hätte. Er kehrt nirgends wieder. Ich bin deshalb geneigt anzunehmen, dass, wenn dessen Charakterisierung als Rachesohn keine deutende Interpolation sein sollte, sie dem Apokalyptiker als geläufige Phrase und zugleich als ihm naheliegende Deutung in die Feder geflossen ist. Dies ist umso wahrscheinlicher, als unter den damaligen Umständen dieses Intermezzo kaum irgendwie anders hätte verstanden werden können, obschon die Deutung völlig sinnlos ist. Wie ich oben schon bemerkte, bildet die Sonnenweibepisode einen Fremdkörper im Flusse der Visionen. Es dürfte daher nicht abwegig sein, zu vermuten, dass schon der Verfasser der Apokalypse und, wenn nicht dieser, dann ein perplexer Abschreiber das Bedürfnis empfand, diese offenkundige Christusparallele irgendwie zu deuten, bzw. dem Gesamttext anzugleichen. Das konnte leicht mit dem geläufigen Bilde vom Hirten mit dem eisernen Stabe geschehen. Ein anderer Zweck dieser Assoziation wäre mir unerfindlich.
Der Knabe wird zu Gott, seinem offenkundigen Vater, entrückt, und die Mutter wird in der Wüste verborgen, womit wohl angedeutet sein soll, dass es sich um eine vorderhand auf unbestimmte Zeit latente Gestalt handelt, deren spätere Wirksamkeit noch vorbehalten ist. Die Hagargeschichte dürfte hier präfigurierend sein. Die relative Ähnlichkeit dieser Geschichte mit der Geburtslegende Christi will offenbar nur bedeuten, dass die neuere Geburt ein analoges Ereignis dazu darstellt und zwar vermutlich in derselben Weise, wie die zuvor geschilderte Inthronisierung des Lammes in seiner metaphysischen Herrlichkeit, wobei dieser Akt schon längst, nämlich zur Zeit der Himmelfahrt, stattgefunden haben muss. In gleicher Weise ist geschildert, wie der Drache, d. h. der Teufel, auf die Erde geworfen wird, wo doch Christus den Satanssturz ebenfalls schon viel früher beobachtet hat. Diese merkwürdige Wiederholung oder Verdoppelung der für das Christusleben charakteristischen Ereignisse lassen die Vermutung aufkommen, dass ein zweiter, endzeitlicher Messias zu erwarten sei. Es kann sich dabei nicht um ein Wiederkommen von Christus selber handeln, denn er würde ja »in den Wolken des Himmels« kommen, nicht aber ein zweites Mal geboren werden, und dazu noch aus einer Sonne-Mondkonjunktion. Der endzeitlichen Epiphanie (Anm.: Erscheinung des Herrn) entspricht vielmehr der Inhalt von Apok. I oder XIX, II ff. Die Tatsache, dass Johannes bei der Geburtsschilderung den Apollo-Letomythus benützt, dürfte ein Fingerzeig sein: im Gegensatz zur christlichen Tradition handelt es sich bei der Vision um ein Produkt des Unbewussten (Man kann es zwar für wahrscheinlich halten, dass Johannes den Letomythus kannte und dieser ihm daher bewusst war. Unbewusst und unerwartet aber war ihm wohl die Möglichkeit, dass sein Unbewusstes diesen heidnischen Mythus zur Charakterisierung der Geburt des zweiten Messias benützen würde). Im Unbewussten aber ist alles vorhanden, was im Bewusstsein verworfen wird, und je christlicher das Bewusstsein ist, desto heidnischer gebärdet sich das Unbewusste, wenn nämlich im verworfenen Heidentum noch lebenswichtige Werte stecken, d. h. wenn das Kind (wie es so häufig geschieht) mit dem Bade ausgeschüttet wurde. Das Unbewusste isoliert und differenziert seine Objekte nicht, wie das Bewusstsein es tut. Es denkt nicht abstrakt oder abgesehen vom Subjekt: die Person des Ekstatikers und Visionärs ist stets einbezogen und einbegriffen. In diesem Falle ist es Johannes selber, dessen unbewusste Persönlichkeit mit Christus annähernd identifiziert ist, d. h. er wird ähnlich geboren wie dieser, und zu ähnlicher Bestimmung. Johannes ist vom Archetypus des göttlichen Sohnes ergriffen und sieht daher dessen Wirken im Unbewussten oder, mit anderen Worten, wie Gott im (zum Teil heidnischen) Unbewussten wiederum gehören wird, ununterscheidbar vom Selbst des Johannes, indem das »göttliche Kind« Symbol des einen wie des anderen ist, gleicherweise wie Christus. Das Bewusstsein eines Johannes war allerdings fern davon, Christum als Symbol aufzufassen. Für den gläubigen Christen stellt dieser alles dar, nur kein Symbol, d. h. einen Ausdruck für etwas Unerkenn- bzw. noch nicht Erkennbares. Und doch ist dem natürlicherweise so. Christus hätte seinen Gläubigen keinen Eindruck gemacht, wenn er nicht zugleich etwas, das in ihrem Unbewussten lebte und am Werke war, ausgedrückt hätte. Das Christentum selber hätte sich in der antiken Welt nicht mit dieser erstaunlichen Schnelligkeit ausgebreitet, wenn seiner Vorstellungswelt nicht eine analoge psychische Bereitschaft entgegen gekommen wäre. -- Diese Begründung spiegelt nur eine völlige Missachtung der historischen Ereignisse. Bis zum römischen Kaiser Konstantin war Christentum ein absolutes Minderheitenprogramm. Erst dessen Ausnutzen des Christentums für seine politischen Zwecke machte das Christentum zur Staatsreligion und damit zur Staatsdoktrin, die auch mit Gewalt durchgesetzt wurde. Auch die weitere Verbreitung des Christentums ist vor allem eine Geschichte der Zwangsmissionierung. -- Diese Tatsache ist es, die auch die Aussage ermöglicht, dass wer an Christus glaubt, nicht nur in ihm enthalten ist, sondern Christus wohnt dann auch im Gläubigen als der gottebenbildliche, vollkommene Mensch, der Adam secundus. Es handelt sich dabei psychologisch um dasselbe Verhältnis, welches in der indischen Anschauung die Beziehung von Purusha-Atman zum menschlichen Ich-Bewusstsein darstellt. Es ist die Überordnung des »vollkommenen« (CELELOS), d. h. ganzheitlichen Menschen, der aus der Totalität der Psyche, also aus Bewusstsein und Unbewusstem, besteht, über das Ich, welches nur das Bewusstsein und dessen Inhalte repräsentiert, das Unbewusste aber nicht kennt, obschon es davon in mannigfacher Hinsicht abhängt und sehr oft entscheidend beeinflusst wird. Es ist die Beziehung vom Selbst zum Ich, das sich in der Relation Christus-Mensch widerspiegelt. Daher stammen die unverkennbaren Analogien zwischen gewissen indischen und christlichen Anschauungen, die Anlass zur Vermutung von indischen Einflüssen auf das Christentum gegeben haben.
Dieser in Johannes bisher latente Parallelismus bricht in Gestalt einer Vision in das Bewusstsein ein. Dass dieser Einbruch authentisch ist, sieht man an der, für einen damaligen Christen höchst unwahrscheinlichen, Benützung heidnischen Mythenmaterials, bei dem sogar astrologische Einflüsse wahrscheinlich sind. Daraus dürfte sich auch die durchaus »heidnische« Bemerkung »und die Erde half dem Weibe« erklären. Wenn schon das damalige Bewusstsein ausschließlich von christlichen Vorstellungen erfüllt war, so lagen doch die früheren bzw. zeitgenössischen heidnischen Inhalte gleich unter der Schwelle, wie dies z. B. auch bei S. Perpetua der Fall war. Bei einem Judenchristen - ein solcher war wohl der Verfasser der Apokalypse - kommt als Vorlage noch die kosmische Sophia in Betracht, auf welche Johannes sich einige Male bezieht. Sie könnte unschwer als Mutter des göttlichen Kindes (Der Sohn würde dann dem filius sapientiae des Mittelalters entsprechen) gelten, da sie offenbar ein Weib im Himmel ist, d. h. eine Göttin und Gefährtin eines Gottes. Sophia entspricht dieser Definition, ebenso die erhöhte Maria. Wäre unsere Vision ein moderner Traum, so würde man nicht zögern, die Geburt des göttlichen Kindes als das Bewusstwerden des Selbst zu deuten. Im Falle des Johannes hat die Glaubenseinstellung des Bewusstseins eine Rezeption des Christusbildes in das Material des Unbewussten bewirkt, den Archetypus der göttlichen Jungfrau-Mutter und der Geburt ihres Sohn-Geliebten belebt und mit dem christlichen Bewusstsein zur Konfrontation gebracht. Damit wird Johannes persönlich in das göttliche Geschehen einbezogen.
Sein von negativen Gefühlen getrübtes Christusbild ist allerdings zu dem eines grausamen Rächers geworden, der eigentlich mit einem Erlöser gar nichts mehr zu tun hat. Man ist nicht allzu sicher, ob nicht am Ende diese Christusgestalt mehr vom Menschen Johannes mit dessen kompensierendem Schatten an sich hat, als vom göttlichen Erlöser, der als lumen de lumine »keine Finsternis« in sich enthält. Schon die groteske Paradoxie des »zornigen« Lammes hätte uns auf diesen Verdacht bringen können. Man kann es drehen und wenden wie man will, im Lichte des Evangeliums der Liebe gesehen ist und bleibt der Rächer und Richter eine finstere Gestalt. Man darf auch vermuten, dass hierin der Grund liegt, der Johannes mag bewogen haben, den neugeborenen Knaben an die Rächergestalt zu assimilieren und damit dessen mythologischen Charakter als den eines lieblichen und liebenswerten Götterjünglings, wie er uns in der Gestalt eines Tammuz, Adonis oder Balders entgegentritt, zu verwischen. Die bezaubernde frühlingshafte Schönheit des göttlichen Knaben stellt eben einen jener antiken Werte dar, welche das Christentum und insbesondere die düstere Welt des Apokalyptikers so sehr vermissen lassen, den unbeschreiblichen Morgenglanz eines Frühlingstages, der nach des Winters Totenstarre die Erde grünen und blühen und des Menschen Herz froh sein und an einen liebenden gütigen Gott glauben lässt.
Als Ganzheit ist das Selbst per definitionem immer eine complexio oppositorum (Anm. Vereinigung der Gegensätze), und seine Erscheinungsweise ist umso dunkler und drohender, je mehr das Bewusstsein sich Lichtnatur vindiziert (Anm.: rechtssprachlich: als Eigentümer vom Besitzer einer Sache die Aushändigung fordern) und daher auf moralische Autorität Anspruch erhebt. Man darf bei Johannes derartiges annehmen, denn er war ein Hirt seiner Herde und obendrein auch ein Mensch und darum fehlbar. Wäre die Apokalypse eine sozusagen persönliche Angelegenheit des Johannes, und daher nichts als ein Ausbruch persönlichen Ressentiments, so hätte die Gestalt des zornigen Lammes diesem vollends Genüge getan. Rebus sic stantibus (Anm.: bei so bewandten Umständen) hätte der neugeborene Knabe einen wahrnehmbar positiven Aspekt haben müssen, denn er hätte, seiner ganzen symbolischen Natur nach, die unleidliche Verwüstung, welche der Ausbruch zurückgedrängter Leidenschaften angerichtet hatte, kompensiert; war er doch das Kind der conjunctio oppositorum, der sonnerfüllten Tag und der lunaren Nachtwelt. Er hätte als Mediator zwischen dem liebevollen und dem rachsüchtigen Johannes vermittelt und wäre damit ein wohltätig ausgleichender Erlöser gewesen. Dieser positive Aspekt muss Johannes aber entgangen sein, sonst hätte er das Kind nicht als mit dem rächenden Christus auf einer Linie stehend auffassen können.
Das Problem des Johannes ist aber kein persönliches. Es handelt sich nicht um sein persönliches Unbewusstes und um einen launenhaften Ausbruch, sondern um Gesichte, die einer größeren und umfassenderen Tiefe entsteigen, nämlich dem kollektiven Unbewussten. Die Problematik des Johannes drückt sich zu viel in kollektiven und archetypischen Formen aus, als dass es erlaubt wäre, sie auf eine bloß persönliche Situation zu reduzieren. Das wäre nicht nur zu billig, sondern auch praktisch wie theoretisch unrichtig. Johannes war als Christ ergriffen von einem kollektiven, archetypischen Geschehen und muss daher vor allem und in erster Linie aus diesem erklärt werden. Gewiss hatte er auch seine persönliche Psychologie, in die wir, 'wenn wir den Verfasser der Briefe und den Apokalyptiker für eine und dieselbe Person halten dürfen, sogar einigen Einblick haben. Dass die imitatio Christi im Unbewussten einen entsprechenden Schatten erzeugt, dafür haben wir genügend Beweise. Die Tatsache, dass Johannes überhaupt Visionen hatte, ist schon ein Beweis für eine ungewöhnliche Gegensatzspannung zwischen dem Bewusstsein und dem Unbewussten. Wenn er identisch ist mit dem Verfasser der Briefe, so muss er bei der Abfassung der Apokalypse schon in höchstem Alter gestanden haben. In confinio mortis (Anm.: an der Grenzscheide des Todes) und am Abend eines langen, inhaltsreichen Lebens eröffnet sich der Blick oft in ungeahnte Fernen. Ein solcher Mann lebt nicht mehr in den Interessen des Alltags und den Peripetien (Als Peripetie, - von altgr.: περιπέτεια, peripeteia, plötzlicher Umschlag, unerwartetes Unglück/Glück; im Drama: durch plötzlichen Umschlag bewirkte Lösung des Knotens- bezeichnet man ein Umschlagen des Glücks/Unglücks oder den entscheidenden Wendepunkt im Schicksal eines Menschen) persönlicher Beziehungen, sondern in der Schau über weite Zeiträume und in der saecularen Bewegung der Ideen. Das Auge des Johannes dringt in die ferne Zukunft des christlichen Aeons und in die dunkle Tiefe jener Mächte, denen sein Christentum die Waage hält. Was in ihm aufbricht, ist der Sturm der Zeiten, die Ahnung einer ungeheuerlichen Enantiodromie, die er nicht anders verstehen kann, denn als eine endgültige Vernichtung jener Finsternis, die das Licht, das in Christo erschienen war, nicht begriffen hatte. Er sah aber nicht, dass die Macht der Zerstörung und Rache eben gerade jene Finsternis ist, von welcher sich der menschgewordene Gott abgespalten hatte. Er konnte darum auch nicht verstehen, was jenes Sonne-Mondkind bedeutete, welches er nur als eine weitere Rachefigur zu begreifen vermochte. Die Leidenschaft, die in seiner Offenbarung durchbricht, lässt nichts ahnen von der Mattigkeit oder Abgeklärtheit des hohen Alters, denn sie ist unendlich viel mehr als persönliches Ressentiment; sie ist der Geist Gottes selber, der durch die schwache sterbliche Hülle dringt und wiederum die Furcht der Menschen vor der unabsehbaren Gottheit fordert. -- Warum wohl erscheinen Christen immer christliche Glaubensinhalte, Buddhisten buddhistische, Hinduisten eine deren zahllose Gottheiten, etc., etc. und nicht einem Christen z.B. die Göttin Kali und einem Buddhisten Christus? Weil dies alles zutiefst menschliche Vorstellungen sind, die von der persönlichen Inkulturation bestimmt werden. D.h., sie werden "mit der Muttermilch und dem Vatergeschwätz eingesogen". ---



XIV

Der Strom negativer Gefühle scheint unerschöpflich zu sein und die schlimmen Ereignisse nehmen ihren Fortgang. Aus dem Meere kommen »gehörnte« (mit Macht begabte) Ungeheuer als weitere Ausgeburten der Tiefe. Dieser Übermacht von Finsternis und Zerstörung gegenüber wird es begreiflich, wenn das verängstigte menschliche Bewusstsein nach einem Berge der Rettung, einem Punkte der Ruhe und Sicherheit Ausschau hält. Johannes flicht daher passenderweise eine Vision des Lammes auf dem Berge Zion ein (Kap. XIV), wo die 144000 Erwählten und Geretteten um das Lamm versammelt sind. Es sind παρδένοι, (pardenoi) die Jungfräulichen, »die sich nie mit Frauen befleckt haben«. Es sind die, welche, in der Nachfolge des frühsterbenden Gottessohnes, nie zu ganzen Menschen geworden sind, sondern der Teilnahme am menschlichen Schicksal freiwillig entsagt und damit zur Fortsetzung der Existenz auf der Erde Nein gesagt haben (Sie gehören eigentlich in den Kult der großen Mutter, indem sie den entmannten Galloi derselben entsprechen. Vgl. dazu die seltsame Stelle Matth. XIX, 12, wo von Eunuchen die Rede ist, die sich .um des Himmelsreiches willens selber kastriert haben, wie die Kybelepriester, die in der Nachfolge ihres Sohngottes Attis sich selbst zu entmannen pflegten). Könnten sich alle zu diesem Standpunkt bekehren, so wäre die Kreatur Mensch in wenigen Jahrzehnten ausgerottet. Der Vorausbestimmten sind aber relativ wenige. Johannes glaubt an die Prädestination in Übereinstimmung mit höherer Autorität. Das ist ungeschminkter Pessimismus.

»Denn alles was entsteht
Ist wert, dass es zugrunde geht«,

sagt Mephisto.
Die nur einigermaßen tröstliche Aussicht wird sofort wieder von den warnenden Engeln unterbrochen. Der erste verkündet ein »ewiges Evangelium«, dessen Quintessenz lautet: »Fürchtet Gott!« Von der Liebe Gottes ist nicht mehr die Rede. Gefürchtet wird nur das Furchtbare.
Der Menschensohn hält in den Händen eine scharfe Sichel und hat einen Helfer, der ebenfalls eine Sichel handhabt. Die Weinernte aber besteht in einem Blutbad sondergleichen: »Es floss Blut aus der Kelter (in welcher die Menschen eingestampft werden) bis an die Zügel der Pferde, sechzehnhundert Stadien weit.«
Aus dem himmlischen Tempel treten die sieben Engel mit den Zornschalen, die sie nunmehr über die Welt ausschütten. Das Hauptstück bildet die Vernichtung der großen Buhlerin Babylon, des Gegenstückes zur himmlischen Jerusalem. Babylon bildet die chthonische Entsprechung zum Sonnenweibe Sophia, allerdings mit Umkehrung des moralischen Vorzeichens. Wenn sich die Erwählten zu Ehren der großen Mutter Sophia in »Jungfrauen« verwandeln, so wird im Unbewussten zur Kompensation eine greuliche Unzuchtsphantasie erzeugt. Die Vernichtung der Babylon bedeutet daher nicht nur die Ausrottung der Unzucht, sondern die Aufhebung der Lebenslust überhaupt, wie aus Apok. XVIII, 22 zu ersehen ist: »Und ein Ton von Harfenspielern und Musikern und Flötenspielern und Trompetenbläsern wird nicht mehr in dir gehört werden, und kein Künstler in irgend einer Kunst wird mehr in dir gefunden werden . . .und das Licht der Lampe wird nicht mehr in dir scheinen, und die Stimme des Bräutigams wird nicht mehr in dir vernommen werden ...« Da wir gegenwärtig in der Endzeit des christlichen Aeons der Fische leben, so kann man nicht umhin des Verhängnisses, das unsere moderne Kunst erreicht hat, zu gedenken.
Symbole wie Jerusalem, Babylon etc. sind natürlich stets überdeterminiert, d. h. sie haben mehrere Bedeutungsaspekte und können daher nach verschiedenen Richtungen gedeutet werden. Ich beschränke mich auf den psychologischen Aspekt. Die möglichen Beziehungen zur damaligen Zeitgeschichte will ich nicht beurteilen.
Der Untergang aller Schönheit und Lebensfreude, das unvorstellbare Leid der ganzen Kreatur, die einstmals aus der Hand eines verschwenderischen Schöpfers hervorgegangen war, gäbe wohl einem fühlenden Herzen Anlass zu tiefster Melancholie. Johannes aber schreibt: »Frohlocke über sie, du Himmel und ihr Heiligen und ihr Apostel und ihr Propheten; denn Gott hat euch an ihr (der Babylon) gerächt«, woraus zu ersehen ist, wie weit die Rachsucht und Zerstörungslust geht, und was der »Pfahl im Fleische« ist.
Christus als der Heerführer der Engel ist es, der »die Kelter des Zornweins des Grimms des allmächtigen Gottes« tritt. Sein Gewand ist »in Blut getaucht«. Er reitet auf einem weißen Pferde (Hier könnte ebenfalls astrologische Spekulation über die zweite Hälfte des christlichen Aeons in Frage kommen, nämlich Pegasus als Paranatellon des Aquarius) und mit dem Schwerte, das aus seinem Munde geht, tötet er das Tierund mit ihm den »falschen Propheten«, vermutlich seine oder des Johannes dunkle Widerspiegelung oder Entsprechung, d. h. also den Schatten. Der Satan wird in die Unterwelt eingeschlossen auf 1000 Jahre und ebensolange wird Christus herrschen. »Nachher aber muss er (Satan) auf kurze Zeit losgelassen werden.« Die 1000 Jahre entsprechen astrologisch der ersten Hälfte des Fischaeons. Die Freilassung des Satan nach dieser Zeit, wofür man sich wirklich keinen anderen Grund ersinnen könnte, entspricht der Enantiodromie des christlichen Aeons, d. h. dem Antichristus, dessen Kommen aus astrologischen Gründen vorausgesagt werden konnte. Nach Ablauf einer nicht näher angegebenen Frist wird der Teufel schließlich auf ewig in den Feuersee geworfen (aber nicht völlig vernichtet, wie bei Henoch), und die ganze ursprüngliche Schöpfung verschwindet.
Nun kann der schon XIX, 7 angekündigte Hierosgamos, die Hochzeit des Lammes mit »seinem Weibe«, stattfinden. Die Braut ist das vom Himmel herabkommende neue Jerusalem. »Ihre Leuchte ist gleich dem kostbarsten Edelstein, wie ein kristallheller Jaspis.« Die Stadt bildet ein gleichseitiges Viereck und besteht aus Goldglas, ebenso ihre Straße. Gott selber und das Lamm sind der Tempel in ihr und die Quelle unaufhörlichen Lichtes. Es gibt keine Nacht mehr, und Unreines kann nicht in die Stadt eindringen. (Diese nochmalige Versicherung beschwichtigt einen noch immer nicht ganz zur Ruhe gekommenen Zweifel!) Vom Throne der Gottheit fließt die Quelle des Lebenswassers, und dabei stehen die Lebensbäume, womit auf das Paradies und die pleromatische Präexistenz hingewiesen ist.
Diese Schlussvision, die, wie bekannt, auf das Verhältnis der Kirche zu Christus gedeutet wird, hat die Bedeutung eines »vereinigenden Symbols« und stellt darum Vollkommenheit und Ganzheit dar; daher die Quaternität, die sich in der Stadt als Quadratur, beim Paradies in den vier Strömen, bei Christus in den vier Evangelisten, und bei Gott in den vier Lebewesen ausdrückt. Während der Kreis die Rundung des Himmels und das allumfassende Wesen der (pneumatischen) Gottheit bedeutet, bezieht sich das Quadrat auf die Erde (In China ist Himmel =rund und Erde =viereckig). Der Himmel ist männlich, die Erde aber weiblich. Daher thront Gott im Himmel, die Weisheit aber auf der Erde, wie sie bei Jesus Sirach (XXIV, 11) sagt: »In der Stadt, die er liebt, wie mich, ließ ich mich nieder und in Jerusalem übte ich meine Macht aus.« Sie ist die »Mutter der edeln Liebe“ und wenn Johannes Jerusalem als die Braut darstellt, so lehnt er sich wohl an Jesus Sirach an. Die Stadt ist die Sophia, die vor aller Zeit schon bei Gott war und in der Endzeit durch die heilige Hochzeit Gott wieder verbunden wird. Sophia koinzidiert (Anm.: zusammenfallen, -treffen) als das Weibliche mit der Erde, von der, wie ein Kirchenvater sagt, Christus entsprungen ist, daher mit der Quaternität der Gotteserscheinung bei Ezechiel, nämlich den vier lebendigen Wesen. Ahnlich wie die Sophia die Selbstreflexion Gottes bedeutet, so stellen die vier Seraphim das Bewusstsein Gottes mit seinen vier funktionellen Aspekten dar. Darauf weisen auch die vielen wahrnehmenden Augen, welche in den Vier zusammengefasst sind. Es handelt sich um eine vierteilige Synthese der unbewussten Luminositäten, entsprechend der Tetramerie des lapis philosophorum, an welchen die Schilderung der himmlischen Stadt erinnert: alles funkelt von Edelstein, Kristall und Glas, ganz entsprechend der oben erwähnten Gottesvision. Wie der Hierosgamos Jahwe und Sophia (in der Kabbala =Schechinah) vereinigt und damit den pleromatischen Anfangszustand wiederherstellt, so weist auch die parallele Schilderung von Gott und Stadt auf ihre gemeinsame Natur hin: sie sind ursprünglich eines; ein hermaphroditisches Urwesen, ein Archetypus von größter Universalität.
Zweifellos soll dieses Ende eine endgültige Lösung des furchtbaren Konfliktes der Existenz überhaupt bedeuten. Die Lösung besteht aber nicht in der Versöhnung der Gegensätze, sondern in deren endgültiger Auseinanderreißung, wobei die Menschen, die dazu bestimmt sind, sich dadurch retten können, dass sie sich mit der lichten pneumatischen Seite Gottes identifizieren. Eine unerlässliche Bedingung scheint die Verweigerung der Fortpflanzung und des Geschlechtslebens überhaupt zu sein.

-- C.G.Jung ist (war) Christ und das sei ihm unbenommen. Dazu gibt es von mir nichts zu sagen, da die religiöse Überzeugung eines jeden Menschen für mich dessen ureigenste Angelegenheit ist, die ich solange nicht zu kommentieren habe, als dieser mich nicht in meinem Lebensvollzug durch eben diese Überzeugung tangiert. Trotzdem muss ich festhalten, dass die in diesem Kapitel skizzierten Gedanken ganz offenbar die Lebensrealität von Jung sind und darum auch ihn benötigen, um real zu sein. So wie meine Gedanken mich benötigen, um real zu sein. Für mich ist das alles nichts als Spekulation, die ganz offensichtlich aus der Zusammenschau von Jungs ungeheurem Detailwissen über die verschiedensten Mythologien entsteht, weil er annimmt, dass alles was zahllose Generationen vor uns aufgeschrieben haben auch bedeutsam ist. Ich gehe hingegen davon aus, dass sehr vieles davon nur Treibsand ist, weil Menschen einfach überleben wollen und ihnen dazu jedes auch noch so anrüchige Mittel recht ist. Dies war sicherlich die Lebensrealität dieser Menschen, ist aber für uns heutige bestenfalls als Beispiel für die zahllosen möglichen Irrungen von Menschen dienlich.--



XV
Die Apokalypse ist einerseits so persönlich und andererseits so archetypisch und kollektiv, dass man wohl beide Aspekte in Betracht ziehen muss. Das moderne Interesse würde sich gewiss der Person des Johannes zunächst zuwenden. Wie bereits angedeutet, ist es nicht unmöglich, dass Johannes, der Verfasser der Briefe, mit dem Apokalyptiker identisch ist. Der psychologische Befund spricht zugunsten dieser Annahme. Die »Offenbarung« wurde von einem frühen Christen erlebt, der vermutlich als Autorität ein vorbildliches Leben führen und einer Gemeinde die christlichen Tugenden des richtigen Glaubens, der Demut, Geduld, Hingebung, der selbstlosen Liebe und der Entsagung aller Weltlüste demonstrieren musste. Das kann auf die Dauer auch dem Besten zuviel werden. Reizbarkeit, üble Launen und Affektausbrüche stellen die klassischen Symptome der chronischen Tugendhaftigkeit dar (Christus gab dem Apostel Johannes nicht mit Unrecht den Zunamen: »Sohn des Donners«). In Bezug auf seine christliche Einstellung erleuchten uns wohl am besten seine eigenen Worte: »Geliebte, lasset uns einander lieben, denn die Liebe ist aus Gott, und jeder, der liebt, ist aus Gott gezeugt und erkennt Gott. Wer nicht liebt, hat Gott nicht erkannt; denn Gott ist Liebe ... Darin besteht die Liebe, nicht dass wir Gott geliebt haben, sondern dass er uns geliebt und seinen Sohn als Sühneopfer für unsere Sünden gesandt hat. Geliebte, wenn Gott uns so geliebt hat, sind auch wir verpflichtet, einander zu lieben ... Und wir haben erkannt und geglaubt die Liebe, die Gott zu uns hat. Gott ist Liebe, und wer in der Liebe bleibt, der bleibt in Gott, und Gott bleibt in ihm ...Furcht ist nicht in der Liebe .. . Wer sich aber fürchtet, ist nicht zur Vollkommenheit in der Liebe gelangt ... Wenn jemand sagt: Ich liebe Gott und doch seinen Bruder hasst, ist er ein Lügner . . . Und dieses Gebot haben wir von ihm, dass, wer Gott liebt, auch seinen Bruder lieben soll.« Wer aber hasst die Nicolaiten? Wer ist rachsüchtig und will die Isebel sogar aufs Siechbett werfen und ihre Kinder des Todes sterben lassen? Wer kann sich nicht genug tun an blutrünstigen Phantasien? Seien wir aber psychologisch genau: es ist nicht das Bewusstsein des Johannes, das solche Phantasien ersinnt, sondern sie stoßen ihm in gewalttätiger »Offenbarung« zu; sie überfallen ihn mit ungewollter und unerwarteter Vehemenz und mit einer Intensität, welche, wie bereits angedeutet, alles überschreitet, was wir als Kompensation einer etwas einseitigen Bewusstseinseinstellung normalerweise erwarten könnten.
Ich habe viele kompensierende Träume gläubiger Christen gesehen, die sich über ihre wirkliche seelische Beschaffenheit täuschten und sich in einer anderen Verfassung wähnten, als es der Wirklichkeit entsprach. Aber ich habe nichts gesehen, das auch nur im Entferntesten mit der brutalen Gegensätzlichkeit der johanneischen Offenbarung verglichen werden könnte. Es sei denn, dass es sich um eine schwere Psychose handelte. Zu einer derartigen Diagnose gibt aber Johannes keinen Anlass. -- Diese Feststellung ist eine typische Jung'sche Anmaßung. Er stellt den Gesundheitszustand einer Person fest, die nahezu 1900 Jahre vor ihm gestorben ist. So wie er auch in anderen Schriften psychologische Diagnosen über Künstler und deren Werke abgibt, Ferndiagnosen, die aus der maßlosen Überheblichkeit eines Menschen resultiert, der glaubt, mit einigen zumindest hinterfragbaren Erkenntnissen die Welt erklären zu können, eine Charaktereigenschaft, die er bei aller sonstigen Verschiedenheit mit Freud teilt. -- Dazu ist die Apokalypse nicht verworren genug, zu konsequent, nicht subjektiv und skurril genug. Ihre Affekte sind, in Ansehung ihres Gegenstandes, adäquat. Ihr Verfasser braucht kein unbalancierter Psychopath zu sein. Es genügt, dass er ein leidenschaftlich religiöser Mensch mit einer im übrigen geordneten Psyche ist. Er muss aber ein intensives Verhältnis zu Gott haben, das ihn für einen alles Persönliche weit überschreitenden Einbruch offen legt. Der wirklich religiöse Mensch, dem zugleich die Möglichkeit einer ungewöhnlichen Bewusstseinsausweitung in die Wiege gelegt ist, muss solche Gefahren gewärtigen.
Der Zweck der apokalyptischen Visionen besteht ja nicht darin, den gewöhnlichen Menschen Johannes wissen zu lassen, wie viel Schatten er unter seiner Lichtnatur birgt, sondern dem Seher den Blick für die Unermesslichkeit Gottes aufzutun, denn wer liebt, wird Gott erkennen. Man kann sagen, eben weil Johannes Gott liebte und sein Möglichstes tat, auch seine Mitmenschen zu lieben, sei ihm die »Gnosis«, die Gotteserkenntnis, zugestoßen und er hat, wie Hiob, die wilde Furchtbarkeit Jahwes geschaut, darum sein Evangelium der Liebe als einseitig erlebt und durch das der Furcht ergänzt: Gott kann geliebt und muss gefürchtet werden.
Damit weitet sich das Gesichtsfeld des Sehers weit über die erste Hälfte des christlichen Aeons hinaus: er ahnt, dass nach 1000 Jahren der antichristliche Zeitabschnitt beginnen wird, ein deutliches Anzeichen dafür, dass Christus nicht unbedingter Sieger ist. Johannes antizipiert die Alchemisten und Jacob Boehme; er fühlt vielleicht seine persönliche Implikation im göttlichen Drama, indem er die Möglichkeit der Gottesgeburt im Menschen, welche die Alchemisten, Meister Eckhart und Angelus Silesius ahnten, vorwegnahm. Er umriss damit das Programm des gesamten Fischaeons mit dessen dramatischer Enantiodromie und dessen dunklem Ende, das wir noch nicht erlebt haben, und vor dessen wahrhaft und unübertrieben apokalyptischen Möglichkeiten die Menschheit schaudert: die vier unheimlichen Reiter, die drohenden Posaunenstöße und die auszuschüttenden Zornschalen warten schon oder noch: die Atombombe hängt über uns wie ein Damoklesschwert, und dahinter lauern die unvergleichlich furchtbareren Möglichkeiten des chemischen Luftkrieges, der selbst die Gräuel der Apokalypse in den Schatten stellen könnte -Luciferi vires accendit Aquarius acres. Wer möchte im Ernste behaupten, dass Johannes wenigstens die Möglichkeiten, die in der Endzeit des christlichen Aeons unsere Welt unmittelbar bedrohen, nicht richtig vorausgesehen habe? Er weiß auch, dass im göttlichen Pleroma das Feuer, in welchem der Teufel gepeinigt wird, auf ewig besteht: Gott hat einen furchtbaren Doppelaspekt: ein Meer der Gnade stößt an einen glühenden Feuersee, und das Licht der Liebe überstrahlt eine dunkle Glut, von der es heißt: ardet non lucet (Anm.: brennt aber leuchtet nicht). Das ist das ewige Evangelium (im Gegensatz zum zeitlichen): man kann Gott lieben und muss ihn fürchten.

-- Die Apokalypse ist eine religiöse Schrift, die man glauben kann oder auch nicht. Sie mit politischen Wirren der Gegenwart zu kombinieren, die eigenen Ängste hinzu zu mischen und auch noch den ganzen Wust ausschließlich selbstreferenziellen mythologischen Wissens dazu zu werfen gerät leicht ins Lächerliche. Jung erweist sich hier einen Bärendienst. ---



XVI
Die Apokalypse, die mit Recht am Ende des Neuen Testamentes steht, greift über dieses hinaus in eine Zukunft, die mit allen apokalyptischen Schrecken in greifbarer Nähe steht. Der Entschluss eines unbesonnenen Momentes in einem herostratischen (Anm.: ruhmsüchtig zu Verbrechen bereit) Kopfe kann genügen, um die Weltkatastrophe auszulösen. Der Faden, an dem unser Schicksal hängt, ist dünn geworden. Nicht die Natur, sondern der »Genius der Menschheit« hat sich den fatalen Strick geknüpft, mit dem er sich jederzeit exekutieren kann. Es ist dies nur eine andere facon de parler (Anm.: Sprechweise), als wenn Johannes vom »Zorn Gottes« spricht. -- Jung hat Angst, nach der Erfahrung, zwei Weltkriege dank seines Schweizertums unbeschadet überstanden zu haben, dass dies im Falle eines nicht von der Hand zu weisenden atomaren Supergaus nicht mehr möglich sein könnte. Er übersieht aus Mangel an Empathie, dass zahllose Menschen diese Weltkatastrophe als persönliche Erfahrung zum Tode hin in diesen beiden Kriegen in allen nur denkbaren grässlichen Varianten durchlitten haben. Diese Menschen können uns nicht mehr berichten, weil sie tot sind. Wir können nur jenen Menschen zuhören, die durch "glückliche(???) Zufälle" dieses Grauen zwar vielleicht körperlich halbwegs heil aber zumeist so traumatisiert überlebt haben, dass sie erst Jahrzehnte später in die Lage kommen, darüber sprechen zu können. --
Leider haben wir kein Mittel, uns zu vergegenwärtigen, wie sich Johannes, falls er, wie ich vermute, mit dem Verfasser der Briefe identisch ist, mit dem Doppelaspekt Gottes auseinandergesetzt haben würde. Es ist wohl ebenso gut möglich, ja sogar wahrscheinlich, dass ihm kein Gegensatz auffiel. Es ist überhaupt erstaunlich, wie wenig man sich mit numinosen Gegenständen auseinandersetzt, und wie mühsam die Auseinandersetzung ist, wenn man sich einmal daran wagt. Die Numinosität des Gegenstandes erschwert dessen denkerische Behandlung, indem die Affektivität immer mit in Frage kommt. Man ist pro et Contra beteiligt und »absolute Objektivität« ist hier noch seltener zu erreichen als anderswo. Hat man positive religiöse Überzeugungen, d. h. »glaubt« man, so empfindet man den Zweifel als sehr unangenehm und fürchtet ihn auch. Aus diesem Grunde analysiert man den Gegenstand des Glaubens lieber nicht. Hat man keine religiösen Anschauungen, so gibt man sich das Gefühl des Defizites nicht gerne zu, sondern pocht vernehmlich auf seine Aufgeklärtheit oder deutet wenigstens den edlen Freimut seines Agnostizismus an. Von diesem Standpunkt aus kann man die Numinosität des religiösen Gegenstandes kaum zugeben und lässt sich von ihr nicht weniger am kritischen Denken verhindern, denn es könnte unangenehmerweise die Möglichkeit eintreten, dass man im Glauben an die Aufklärung oder an den Agnostizismus erschüttert würde. Beide fühlen ja, ohne es zu wissen, das Ungenügende ihres Argumentes. Die Aufklärung operiert mit einem inadäquaten rationalistischen Wahrheitsbegriff und weist z. B. darauf hin, dass Behauptungen wie Jungfraugeburt, Gottessohnschaft, Totenauferstehung, Transsubstantiation etc. Unsinn seien. Der Agnostizismus behauptet, keine Gottes noch irgendwelche andere metaphysische Erkenntnis zu besitzen und übersieht, dass man eine metaphysische Überzeugung niemals besitzt, sondern dass man von ihr besessen ist. Beide sind von der Vernunft besessen, welche den indiskutabeln supremen Arbiter (Anm.: Richter, nicht im Sinne von Justiz, sondern ausrichten) darstellt. Wer aber ist die »Vernunft«? Warum soll sie suprem sein? Bedeutet nicht das, was ist und west, eine dem vernünftigen Urteil überlegene Instanz, wofür die Geistesgeschichte ja so viele Beispiele aufweist? Unglücklicherweise operieren auch die Verteidiger des »Glaubens« mit denselben futilen (Anm.: unsicher, durchlässig; nichtig) Argumenten, nur in umgekehrter Richtung. Unzweifelhaft ist nur die Tatsache, dass es metaphysische Aussagen gibt, welche eben um ihrer Numinosität willen affektvoll behauptet und bestritten werden. Diese Tatsache bildet die sichere empirische Grundlage, von der man auszugehen hat. Sie ist objektiv real als psychisches Phänomen. In dieser Konstatierung sind natürlich schlechthin alle, auch die widerstreitendsten Behauptungen, die jemals numinos waren oder es noch sind, einbegriffen. Man wird die Gesamtheit aller religiösen Aussagen zu berücksichtigen haben.
-- Es gibt Gott und Religion, weil es den Menschen gibt. Ohne Menschen gibt es weder Gott noch Religion.
Warum?
Unsere Vernunft ist nicht in der Lage, ohne haarspalterische Verrenkungen unserm Anfang und Ende einen Sinn beizumessen, weil die Frage nach diesem Sinn eine Eigenschaft dieser Vernunft ist und darum auch ohne diese nicht vorhanden ist. Dies ist durchaus vergleichbar den immer noch vorhandenen nicht auflösbaren diversen mathematischen Problemen, die nicht a priori da sind sondern eine Eigenschaft des mathematischen Systems, das ungeachtet seiner Tauglichkeit zu Beschreibung der Welt in unserem geistigen Koordinatensystem keine Eigenschaft der Welt sondern unserer Vernunft ist.
Unsere Vernunft ist auch nicht in der Lage, adäquat mit unserem Gefühlsleben umzugehen. Es wird allzuoft als Gegenspieler der Vernunft erlebt. Ihm wird spätestens seit Freud und Jung ein Eigenleben unterstellt. In der Vergangenheit war dieses Gefühlsleben allzuoft in Verbindung mit religiösen Vorstellungen vor allem negativ besetzt.
Da dieses Gefühlsleben nach heutigen Erkenntnissen zumindest eine Eigenschaft aller Säugetiere ist, ist davon auszugehen, dass dieses auch schon vor der Entwicklung unserer Vernunft vorhanden war und diese nur ein Ersatz (?) für unsere großteils verlorenen gegangenen Instinkte ist, ein Prozess der sicherlich ein kontinuierlicher war und auch noch immer ist.
Diese Gleichzeitigkeit aus nicht hinreichender Vernunft und einem gefürchteten Gefühlsleben bei gleichzeitigen Verlust der Sicherheit der Instinkte erzwingt religiöse Vorstellungen, um eine über uns selbst hinausreichende Sicherheit imaginieren zu können. Das kann man natürlich als Numinosität bezeichnen oder als metaphysische Überzeugung. -- 

XVII
Kehren wir wieder zurück zu der Frage der Auseinandersetzung mit dem durch den Inhalt der Apokalypse bloßgelegten paradoxen Gottesbegriff ! Das strikt evangelische Christentum braucht sich nicht damit auseinanderzusetzen, denn es hat ja als wesentlichen Lehrinhalt einen Gottesbegriff gebracht, der, im Gegensatz zu Jahwe, mit dem Inbegriff des Guten koinzidiert (Anm.: zusammenfallen, -treffen). Ein anderes wäre es allerdings gewesen, wenn der Johannes der Briefe mit dem der Offenbarung sich hätte auseinandersetzen können oder müssen. Für die Späteren konnte der dunkle Inhalt der Apokalypse in dieser Beziehung leicht außer Betracht fallen, denn die spezifisch christliche Errungenschaft durfte nicht leichtsinnig gefährdet werden. Für den Menschen der Gegenwart liegt der Fall allerdings anders. Wir haben Dinge erlebt, so unerhört und erschütternd, dass die Frage, ob sich solches mit der Idee eines gütigen Gottes noch irgendwie vereinen lasse, brennend wurde. Es handelt sich dabei nicht mehr um ein theologisch-fachwissenschaftliches Problem, sondern um einen allgemein-menschlichen, religiösen Alptraum, zu dessen Behandlung auch ein theologischer Laie, der ich bin, ein Wort beitragen kann oder vielleicht auch muss.
Ich habe im obigen dargelegt, zu was für unvermeidlichen Schlüssen man, wie mir scheint, gelangen muss, wenn man die Tradition mit kritischem Commonsense betrachtet. Wenn man nun solchermaßen mit einem paradoxen Gottesbegriff konfrontiert ist, und zugleich als religiöser Mensch die ganze Tragweite des Problems ermisst, so befindet man sich in der Situation des Apokalyptikers, von dem wir voraussetzen dürfen, dass er ein überzeugter Christ war. Seine mögliche Identität mit dem Johannes der Briefe enthüllt die ganze Schärfe des Widerspruchs: In welchem Verhältnis steht dieser Mensch zu Gott? Wie erträgt er den unerträglichen Widerspruch im Wesen der Gottheit? Obschon wir nichts von seiner Bewusstseinsentscheidung wissen, so glauben wir doch in der Vision des gebärenden Sonnenweibes einen Anhaltspunkt zu finden. -- Hier tritt für Jung genau das Problem auf, dass auch die Mathematik mit ihren nicht lösbaren Fragestellungen hat. Es ist ein Problem des Systems, das außerhalb nicht existiert. Das heißt nichts anderes, als dass diese Widersprüche menschengemacht sind. Jung ist als Christ nicht in der Lage, den von ihm zitierten Widerspruch aufzulösen, ohne sich von seinem Christsein zu lösen. Bei Jung kommt aber noch erschwerend hinzu, dass seine exzessive Beschäftigung mit mythologischen Texten auch zweifelhaftester Herkunft, die er über weite Strecken völlig unhinterfragt für seine Theorien verwendet, da sie seine Vorstellungen (sic!) von menschlicher Psyche bestätigen und ihn außerstande setzen, die eigenen Gedankengebäude zu hinterfragen.--
Die Paradoxie Gottes zerreißt auch den Menschen in Gegensätze und liefert ihn einem anscheinend unlösbaren Konflikt aus. Was geschieht nun in einem derartigen Zustand? Hier müssen wir der Psychologie das Wort lassen, denn sie stellt die Summe aller Beobachtungen und Erkenntnisse dar, welche sie aus der Empirie schwerer Konfliktzustände gesammelt hat. Es gibt z. B. Pflichtenkollisionen, von denen niemand weiß, wie sie zu lösen wären. Das Bewusstsein weiß nur: tertium non datur! (Tertium non datur, ein Drittes ist nicht vorhanden, lautet der Grundsatz vom ausgeschlossenen Dritten (Principium exclusi tertii seu medii inter duo contradictoria), nach welchem Urteile, die bei gleichem Subjekte kontradiktorisch einander entgegengesetzte Prädikate haben (z.B. A = B, A ist nicht = B), nicht beide falsch sein können und nicht die Wahrheit eines dritten Urteils zulassen, so daß eins von beiden wahr sein muß. Aus der Falschheit des einen folgt daher die Wahrheit des anderen. Denn die Falschheit der Bejahung ist gleichbedeutend mit der Abweichung der Vorstellungskombination von der Wirklichkeit, folglich mit der Wahrheit der Verneinung. Der obige Satz gilt übrigens nur von kontradiktorischen, nicht von konträren Prädikaten gleicher Subjekte; diese können beide falsch oder beide richtig sein. Die Einsicht in dieses Denkgesetz ist Aristoteles (384-322) gerade durch seine Opposition gegen ein drittes Mittleres aufgegangen, nämlich gegen Platons sinnliche Dinge, die ein Mittleres zwischen Idee und Materie sein und auch nicht sein sollten). Der Arzt rät darum seinen Patienten, abzuwarten, ob nicht das Unbewusste einen Traum erzeugt, welcher ein irrationales und deshalb unvorhergesehenes und unerwartetes Drittes zur Lösung vorschlägt. Wie die Erfahrung zeigt, tauchen in den Träumen tatsächlich Symbole vereinigender Natur auf, worunter das Motiv des Heldenkindes und der Quadratur des Zirkels, d. h. die Vereinigung der Gegensätze, zu den häufigsten gehören. Wem die spezifisch ärztlichen Erfahrungen nicht zugänglich sind, der kann sich seinen Anschauungsunterricht aus den Märchen und in besonderem Maße aus der Alchemie holen. -- Totaler Schmarrn-- Der eigentliche Gegenstand der hermetischen Philosophie ist ja die coniunctio oppositorum. Sie bezeichnet ihr »Kind« einerseits als Stein (z. B. als Karfunkel), andererseits als homunculus -oder als filius sapientiae oder gar als homo altus. Eben dieser Gestalt begegnen wir in der Apokalypse als dem Sohne der Sonnenfrau, dessen Geburtsgeschichte eine Paraphrase der Christusgeburt darstellt; eine Paraphrase, die von den Alchemisten in abgewandelter Form oftmals wiederholt wurde; setzen sie doch ihren »Stein« als mit Christus parallel (dies, bis auf eine Ausnahme, ohne Beziehung auf die Apokalypse). Wiederum ohne Zusammenhang mit der Alchemie tritt in den Träumen der modernen Menschen dieses Motiv in entsprechender Form und in den entsprechenden Situationen auf, und immer handelt es sich dabei um die Zusammensetzung des Hellen und des Dunkeln, wie wenn sie so gut wie die Alchemisten ahnten, was für ein Problem durch die Apokalypse der Zukunft gestellt wurde. Diese Frage ist es, um welche sich die Alchemisten während beinahe 1700 Jahren gemüht haben, und es ist dieselbe Frage, die auch den heutigen Menschen bedrückt. Er weiß zwar in der einen Hinsicht mehr, aber in der anderen weniger als die Alchemisten. Das Problem ist für ihn nicht mehr auf den Stoff verschoben, wie für erstere. Dagegen ist es ihm psychologisch akut geworden und deshalb hat in dieser Angelegenheit der psychologische Arzt das Wort, mehr als der Theologe, der seiner altertümlichen, figürlichen Sprache verhaftet geblieben ist. -- Das ist Geschwafel übelster Natur. Das kann sich nur der erlauben, der innerhalb einer treuen Anhängergemeinde wie die neuzeitlichen Sektenführer über jeden Zweifel erhaben ist. -- Der Arzt ist durch die Probleme der Neurosentherapie, oft sehr gegen seinen eigenen Willen, gezwungen worden, das religiöse Problem sich genauer anzusehen. Ich selber bin nicht ohne Grund 76 Jahre alt geworden, bis ich mich daran gewagt habe, mir wirkliche Rechenschaft über die Natur jener »Obervorstellungen« abzulegen, welche unser, für das praktische Leben so unendlich wichtiges, ethisches Verhalten entscheiden. Sie sind in letzter Linie die Prinzipien, die laut oder leise die moralischen Entscheidungen, von denen das Wohl und Wehe unserer Existenz abhängt, determinieren. Alle diese Dominanten gipfeln im positiven oder negativen Gottesbegriff (Psychologisch fällt unter den Gottesbegriff jede Idee von etwas Letzthinigem, Erstem oder Letztem, Oberstem oder Unterstem. Der jeweilige Name tut nichts zur Sache). -- Die Wortwahl sagt alles: Sich Rechenschaft über.... ablegen. Dies ist ganz einfach die Frucht seiner protestantisch-christlichen Erziehung. Dabei ist es doch ganz einfach. Alle sozialen Gemeinschaften entwickeln während ihrer Wachstumsphase Regeln für den Umgang miteinander, die vor allem dem Wohl der Gemeinschaft, bzw. der dominierenden Kräfte innnerhalb der Gemeinschaft dienen. Religiöse Gemeinschaften heben diese Regeln sehr oft in den Stand der Moral und machen damit sehr oft den größten Unsinn sakrosankt. Bestes Beispiel ist die nur als neurotisch zu bezeichnende Leibfeindlichkeit des "großen" Kirchenlehrers Augustinus, von der sich die nicht nur katholische Kirche bis zum heutigen Tag nicht lösen kann.--
Seit Johannes, der Apokalyptiker, erstmals (vielleicht unbewusst) jenen Konflikt, in den das Christentum direkt hineinführt, erfahren hat, ist die Menschheit mit diesem belastet: Gott wollte und will Mensch werden. Darum wohl hat Johannes in der Vision eine zweite Sohnesgeburt aus der Mutter Sophia, die durch eine coniunctio oppositorum gekennzeichnet ist, erlebt, eine Gottesgeburt, die den filius sapientiae, den Inbegriff eines Individuationsprozesses vorwegnimmt. Das ist die Wirkung des Christentums in einem Christen der Urzeit, der lange und entschieden genug gelebt hatte, um einen Blick in die ferne Zukunft tun zu können. Die Vermittlung der Gegensätze ist schon im Symbolismus des Christusschicksals angedeutet, nämlich in der Kreuzigungsszene, wo der Mittler zwischen den Schächern hängt, von denen der eine ins Paradies, der andere in die Hölle fährt. Wie nicht anders möglich, musste der Gegensatz in der christlichen Schau zwischen Gott und Mensch liegen, und letzterer lief Gefahr, mit der dunkeln Seite identifiziert zu werden. Dies und die prädestinatianischen Andeutungen des Herrn haben Johannes stark beeinflusst: nur wenige seit Ewigkeit Vorbestimmte werden gerettet, während die große Masse der Menschheit in der Endkatastrophe untergeht. Der Gegensatz zwischen Gott und Mensch in der christlichen Auffassung dürfte eine jahwistische Erbschaft aus jener Frühzeit sein, in der das metaphysische Problem ausschließlich im Verhältnis Jahwes zu seinem Volke bestand. Die Furcht vor Jahwe war noch zu groß, als dass man es -trotz der Gnosis Hiobs -gewagt hätte, die Antinomie in die Gottheit selber zu verlegen. Wenn man aber den Gegensatz zwischen Gott und Mensch belässt, so gelangt man schließlich - nolens volens - zum christlichen Schluss: omne bonum a Deo, omne malum ab homine, womit die Kreatur absurderweise in Gegensatz zu ihrem Schöpfer gestellt und dem Menschen eine geradezu kosmische oder dämonische Größe im Bösen imputiert wird. Der furchtbare Zerstörungswille, der in der Ekstase des Johannes aufbricht, gibt eine Idee davon, was es bedeutet, wenn man den Menschen zu dem Gott des Guten in Gegensatz stellt: man belastet ihn mit der dunklen Gottesseite, die bei Hiob noch an der richtigen Stelle ist. In beiden Fällen aber wird der Mensch mit dem Bösen identifiziert, das eine Mal mit der Wirkung, dass er sich gegen das Gute stellt, das andere Mal, dass er sich so vollkommen zu sein bestrebt, wie sein Vater im Himmel.
Der Entschluss Jahwes, Mensch zu werden, ist ein Symbol für jene Entwicklung, die einsetzen muss, wenn es dem Menschen bewusst wird, mit was für einem Gottesbild er konfrontiert ist (Der Gottesbegriff als die Idee einer allumfassenden Ganzheit schließt auch das Unbewusste ein, also, im Gegensatz zum Bewusstsein, auch die objektive Psyche, welche Absicht und Willen des Bewusstseins so oft durchkreuzt. Das Gebet z. B. verstärkt das Potential des Unbewussten, daher die oft unerwarteten Wirkungen des Gebetes). Der Gott wirkt aus dem Unbewussten des Menschen und zwingt diesen dazu, die beständigen gegensätzlichen Einflüsse, denen sein Bewusstsein von Seiten des Unbewussten ausgesetzt ist, zu harmonisieren und zu vereinen. Das Unbewusste will ja beides, trennen und vereinigen. Bei seinen Einigungsversuchen darf der Mensch daher immer auf die Hilfe eines metaphysischen Anwaltes rechnen, wie schon Hiob dies klar erkannt hat. Das Unbewusste will ins Bewusstsein einfließen, um zum Lichte zu gelangen und zugleich hindert es sich selber daran, da es lieber unbewusst bleiben möchte, d. h. Gott will Mensch werden, aber nicht ganz. Der Konflikt in seiner Natur ist so groß, dass die Menschwerdung nur durch das sühnende Selbstopfer gegenüber dem Zorn der dunklen Gottesseite erkauft werden kann.
Gott hat zuerst das Gute inkarniert, um damit, wie man vermuten darf, für die spätere Assimilation der anderen Seite eine möglichst widerstandsfähige Grundlage zu schaffen. Aus der Verheißung des Parakleten (Anm.: Geist der Wahrheit) dürfen wir den Schluss ziehen, dass Gott ganz Mensch werden, d. h. in seiner eigenen dunklen Kreatur (D. h. in dem von der Erbsünde nicht befreiten Menschen) sich wiedererzeugen und gebären will. Der Apokalyptiker hat uns ein Zeugnis für das Weiterwirken des Hl. Geistes im Sinne der fortschreitenden Menschwerdung hinterlassen. Er ist ein kreatürlicher Mensch, in welchen der dunkle Gott des Zorns und der Rache, ein ventus urens, einbricht. (Dieser Johannes war vielleicht der Lieblingsjünger, dem in hohem Alter die Ahnung der zukünftigen Entwicklung zustieß.) Dieser verwirrende Einbruch erzeugt in ihm das Bild des göttlichen Knaben, eines zukünftigen Heilbringers, geboren von der göttlichen Gefährtin, deren Abbild in jedem Manne wohnt; des Kindes, das auch Meister Eckhart in der Vision erblickte. Er war es, der wusste, dass Gott in seiner Gottheit allein nicht selig ist, sondern in der Seele des Menschen geboren werden muss. Die Inkarnation in Christo ist das Vorbild, das durch den Hl. Geist fortschreitend in die Kreatur übertragen wird.
Da sich unser Lebenswandel mit dem des Urchristen Johannes kaum vergleichen lässt, so kann bei uns neben dem Bösen noch allerhand Gutes einbrechen, namentlich in Hinsicht der Liebe. Einen so reinen Zerstörungswillen, wie bei Johannes können wir bei uns deshalb nicht erwarten. In meiner Erfahrung habe ich derartiges nie beobachtet, gewisse schwere Psychosen und kriminelle Besessenheiten ausgenommen. Vermöge der geistigen Differenzierung in der Reformation, insbesondere der Entwicklung der Wissenschaften (die ja ursprünglich von den gefallenen Engeln gelehrt wurden) sind wir schon ansehnlich mit Dunkel gemischt und könnten uns neben der Reinheit der urzeitlichen (und auch noch späteren) Heiligen nicht mit Vorteil sehen lassen. Unsere relative Schwärze nützt uns natürlich nichts. Sie mildert zwar den Anprall böser Mächte, macht uns aber andererseits dafür anfällig und . relativ widerstandsunfähig. Wir brauchen darum doch mehr Licht, Güte und moralische Kraft und müssen die unhygienische Schwärze, so gut es geht und soviel es möglich ist, abwaschen, sonst gelingt es nicht, den dunkeln Gott, der auch Mensch werden will, aufzunehmen und zugleich auszuhalten, ohne zugrunde zu gehen. Dazu braucht es aller christlichen Tugenden und nicht nur dieser -denn das Problem ist nicht nur moralisch -, sondern auch der Weisheit, die schon Hiob suchte. Sie war aber damals noch bei Jahwe verborgen, bzw. von ihm noch nicht wieder erinnert. Vom »unbekannten« Vater gezeugt und von der Sapientia geboren ist jener höhere und vollständige (τέλειος: teleios) Mensch, der unsere Bewusstseins transzendente Ganzheit in der Gestalt des puer aeternus -vultu mutabilis albus et ater -darstellt. In diesen Knaben musste sich Faust aus seiner aufgeblasenen Einseitigkeit, die den Teufel nur außen sah, herausverwandeln. Präfigurierend sagt Christus: »So ihr nicht werdet wie die Kinder ...«, in denen die Gegensätze nahe beisammen liegen; nämlich der Knabe, der aus der Reife des Mannesalters geboren wird, nicht das unbewusste Kind, das man bleiben möchte. Vorausschauend hat Christus auch, wie oben erwähnt, das Prinzip einer Moral des Bösen angedeutet.
Fremd, unvermittelt, wie nicht hineingehörend erscheint das Sonnenweib mit seinem Kinde im Strome der apokalyptischen Visionen. Es gehört einer anderen, zukünftigen Welt an. Deshalb ist der Knabe, wie der jüdische Messias, vorderhand zu Gott entrückt, und seine Mutter muss sich auf lange Zeit in der Wüste verborgen halten, wo sie aber von Gott ernährt wird. Denn das unmittelbar vorliegende Problem bedeutet noch längst nicht die Vereinigung der Gegensätze, sondern es handelt sich vielmehr um die Inkarnation des Lichten und Guten, um die Bändigung der concupiscentia (der Weltlust) und um die Festigung der civitas Dei im Hinblick auf den nach 1000Jahren erfolgenden Advent des Antichristen, der seinerseits die Schrecken der Endzeit, nämlich die Epiphanie des zornigen und rächenden Gottes, ankündigt. Das in einen dämonischen Widder verwandelte Lamm eröffnet ein neues, das Evangelium Aeternum, welches, über die Liebe zu Gott hinaus, die Gottesfurcht zum Inhalt hat. Aus diesem Grunde schließt die Apokalypse, wie der klassische Individuationsprozess, mit dem Symbol des Hierosgamos, der Hochzeit des Sohnes mit der Mutter-Braut. Die Hochzeit aber findet im Himmel statt, wo »nichts Unreines« eindringt, jenseits der verwüsteten Welt. Licht gesellt sich zu Licht. Das ist das Programm des christlichen Aeons, das erfüllt werden muss, bevor Gott im kreatürlichen Menschen sich inkarnieren kann. Erst in der Endzeit wird sich die Vision vom Sonnenweibe erfüllen. In Anerkennung dieser Wahrheit und offensichtlich bewogen vom Wirken des Hl. Geistes hat der Papst, sehr zum Erstaunen aller Rationalisten, das Dogma der Assumtio Mariae (Anm.: Aufnahme Marias in den Himmel) verkündet: Maria ist als die Braut mit dem Sohne und als Sophia mit der Gottheit im himmlischen Brautgemach vereinigt36. Dieses Dogma ist in jeder Hinsicht zeitgemäß. Es erfüllt erstens figürlicherweise die Vision des Johannes37, spielt zweitens auf die endzeitliche Hochzeit des Lammes an und wiederholt drittens die alttestamentliche Anamnesis der Sophia. Diese drei Beziehungen sagen die Menschwerdung Gottes voraus; die zweite und dritte die Inkarnation in Christo (Wie Hochzeit des Lammes wiederholt die annunciatio et obumbratio Mariae), die erste aber die im kreatürlichen Menschen.
-- Das ist alles ziemlich schwarzer Tobak. Jung hat einfach zuviel von dem ganzen Zeugs (mythologische Literatur) gelesen und das hat ganz einfach seinen Verstand benebelt. Er findet Zusammenhänge, weil sie seinen Vorstellungen entsprechen und verkündet sie als Erkenntnisse und ist doch einfach nur unfähig, die eigenen Vorstellungen kritisch zu hinterfragen. Vielleicht hat seine Stellung innerhalb seiner Anhängerschar es völlig verunmöglicht, seine Vorstellungen einem Zweifel zu unterziehen. --



XVIII
Auf den Menschen kommt es nun an: ungeheure Macht der Zerstörung ist in seine Hand gegeben, und die Frage ist, ob er dem Willen, sie zu gebrauchen, widerstehen und ihn mit dem Geiste der Liebe und Weisheit bändigen kann. Aus eigener Kraft allein wird er dazu kaum fähig sein. Er bedarf dazu eines »Anwaltes« im Himmel, eben des zu Gott entrückten Knaben, welcher die »Heilung« und Ganzmachung des bisher fragmentarischen Menschen bewirkt. Was immer das Ganze des Menschen, das Selbst, an sich bedeuten mag, so ist es empirisch ein vom Unbewussten spontan hervorgebrachtes Bild des Lebenszieles, jenseits der Wünsche und Befürchtungen des Bewusstseins. Es stellt das Ziel des ganzen Menschen dar, nämlich das Wirklichwerden seiner Ganzheit und Individualität mit oder gegen seinen Willen. Die Dynamis dieses Prozesses ist der Instinkt, der dafür sorgt, dass alles, was in ein individuelles Leben hineingehört, auch hineinkommt, ob das Subjekt dazu Ja sagt oder nicht, oder ob es ihm bewusst wird, was geschieht, oder nicht. Es macht natürlich subjektiv einen großen Unterschied, ob man weiß, was man lebt, ob man versteht, was man tut und ob man sich für das, was man beabsichtigt oder getan hat, verantwortlich erklärt oder nicht. Was die Bewusstheit oder das Fehlen derselben ausmacht, hat ein Wort Christi umfassend formuliert: »Wenn du weißt, was du tust, so bist du selig, wenn du aber nicht weißt, was du tust, so bist du verflucht und ein Übertreter des GesetzesUnbewusstheit gilt vor dem Richterstuhl der Natur und des Schicksals nie als Entschuldigung; im Gegenteil stehen hohe Strafen auf ihr, denn alle unbewusste Natur sehnt sich nach dem Lichte des Bewusstseins, dem sie doch so sehr widerstrebt.
Gewiss konfrontiert uns die Bewusstmachung des Verborgenen und Geheimgehaltenen mit einem unlösbaren Konflikt; so wenigstens erscheint es dem Bewusstsein. Aber die aus dem Unbewussten in Träumen hervortretenden Symbole weisen auf die Konfrontation der Gegensätze hin und die Bilder des Zieles stellen deren geglückte Vereinigung dar. Hier kommt uns eine empirisch feststellbare Hilfe von Seiten unserer unbewussten Natur entgegen. Es ist die Aufgabe des Bewusstseins, diese Andeutungen zu verstehen. Wenn dies aber nicht geschieht, so geht der Individuationsprozess dennoch weiter; nur werden wir ihm zum Opfer fallen und vom Schicksal zu jenem unvermeidlichen Ziele geschleppt, das wir aufrechten Ganges hätten erreichen können, hätten wir nur zu Zeiten Mühe und Geduld darauf verwendet, die numina des Schicksalsweges zu begreifen. Es kommt jetzt nur noch darauf an, ob der Mensch eine höhere moralische Stufe, d. h. ein höheres Niveau des Bewusstseins zu erklimmen vermag, um der übermenschlichen Macht, die ihm die gefallenen Engel zugespielt haben, gewachsen zu sein. Er kann aber mit sich selber nicht weiterkommen, wenn er über seine eigene Natur nicht besser Bescheid weiß. In dieser Hinsicht herrscht leider eine erschreckende Ignoranz und eine nicht minder große Abneigung dagegen, das Wissen um das eigene Wesen zu mehren. Immerhin können sich heutzutage die unerwartetsten Köpfe nicht mehr der Einsicht verschließen, dass etwas mit dem Menschen in psychologischer Hinsicht geschehen sollte. Leider verrät das Wörtchen »sollte«, dass man nicht weiß, was tun, und den Weg nicht kennt, der zum Ziel führt. Man kann zwar auf die unverdiente Gnade Gottes, der unsere Gebete erhört, hoffen. Aber Gott, der unsere Gebete nicht erhört, will auch Mensch werden und dazu hat er sich durch den HI. Geist den kreatürlichen Menschen mit dessen Dunkelheit ausersehen; den natürlichen Menschen, den die Erbsünde befleckt, und den die gefallenen Engel die göttlichen Wissenschaften und Künste gelehrt haben. Der schuldige Mensch ist geeignet und darum ausersehen, zur Geburtsstätte der fortschreitenden Inkarnation zu werden, nicht der unschuldige, der sich der Welt vorenthält und den Tribut ans Leben verweigert, denn in diesem fände der dunkle Gott keinen Raum. -- Hier verbindet Jung Moral, Religion und Psychologie auf schlimmtstmögliche Weise. Jung weiß, wie es sein muss und der unvollkommene Jünger kann sich hier nur in einem Phantasma verirren, dessen Schöpfer einzig und allein Jung ist. Jung ist nichts anderes als ein verirrter Guru --
Seit der Apokalypse wissen wir wieder, dass Gott nicht nur zu lieben, sondern auch zu fürchten ist. Er erfüllt uns mit Gutem und mit Bösem, sonst wäre er ja nicht zu fürchten, und weil er Mensch werden will, muss die Einigung seiner Antinomie im Menschen stattfinden. Das bedeutet für den Menschen eine neue Verantwortlichkeit. Er kann sich jetzt nicht mehr mit seiner Kleinheit und Nichtigkeit ausreden, denn der dunkle Gott hat ihm die Atombombe und die chemischen Kampfstoffe in die Hand gedrückt und ihm damit die Macht gegeben, die apokalyptischen Zornschalen über seine Mitmenschen auszugießen. Da ihm sozusagen göttliche Macht geworden, kann er nicht mehr blind und unbewusst bleiben. Er muss um die Natur Gottes und um das, was in der Metaphysik vorgeht, wissen, damit er sich selbst verstehe und dadurch Gott erkenne.

-- So ein Unsinn. Der Mensch der Gegenwart ist genauso wenig und genauso viel unbewusst, wie der vor 100 Jahren. Der amerikanische Präsident Kennedy, dem zwar heute manchmal ein Heiligenschein umgehängt wird und der im Konflikt mit der UDSSR einen Atomkrieg riskiert hat, war nichts als ein sexsüchtiger Weiberheld und in seiner Entwicklung zum Politiker von seinem Vater fremdbestimmt, wie seine Brüder auch. Es war schlichtweg Glück, dass die UDSSR und deren Machtpolitiker wahrscheinlich auch nur überleben wollten, was im Falle eines Atomkrieges nicht gesichert gewesen wäre. Das hat überhaupt nichts mit Wissen um die Natur Gottes oder Gotteserkenntnis zu tun, sondern ist ausschließlich Selbsterhaltungstrieb, der letzte möglicherweise noch funktionierende Trieb des Menschen. Jung wirft hier Kraut und Rüben durcheinander. --




XIX
Die Verkündung des neuen Dogmas hätte Anlass zur Untersuchung der psychologischen Hintergründe geben können. Es war interessant zu sehen, dass unter den vielen Artikeln, die anlässlich der Deklaration von katholischer wie protestantischer Seite publiziert wurden, sich, soviel ich sah, nicht einer fand, der das unzweifelhaft mächtige Motiv, nämlich die populäre Bewegung und deren psychisches Bedürfnis irgendwie gebührend hervorgehoben hätte. Man hat sich im Wesentlichen mit gelehrten dogmatisch-historischen Konsiderationen, die mit dem lebendigen religiösen Geschehen gar nichts zu tun haben, begnügt. Wer aber die in den letzten Jahrzehnten sich häufenden Marienerscheinungen aufmerksam verfolgte und sich über deren psychologische Bedeutung Rechenschaft gab, der konnte wissen, was im Tun war. Namentlich die Tatsache, dass es vielfach Kinder waren, welche die Visionen hatten, konnte zu denken geben, denn in derartigen Fällen ist immer das kollektive Unbewusste am Werke. -- So ein Unsinn. Warum frägt sich Jung nicht, warum nur Christen Marienvisionen haben und nur Hindus solche von Shiva oder anderen ihrer Götter. Für solchen Unsinn auch noch das kollektive Unbewusste zu bemühen, ist der Intelligenz des C.G. Jung unwürdig. -- Übrigens soll auch der Papst selber anlässlich der Deklaration mehrere Visionen der Gottesmutter gehabt haben. -- Welche denn sonst? -- Man konnte schon seit geraumer Zeit wissen, dass ein tiefer Wunsch durch die Massen ging, die Fürbitterin und Mediatrix möge endlich ihren Platz bei der Hl. Trinität einnehmen und »als Himmelskönigin und Braut am himmlischen Hofe« aufgenommen werden. Dass die Gottesmutter dort weile, galt zwar schon seit mehr als 1000 Jahren als ausgemacht, und dass Sophia schon vor der Schöpfung bei Gott war, wissen wir aus dem Alten Testament. Dass der Gott durch eine menschliche Mutter Mensch werden will, ist uns aus der altägyptischen Königstheologie bekannt, und dass das göttliche Urwesen Männliches und Weibliches umfasst, ist eine schon prähistorische Erkenntnis. Aber in der Zeit ereignet sich eine derartige Wahrheit erst, wenn sie feierlich verkündet oder wiederentdeckt wird. Es ist für unsere Tage psychologisch bedeutsam, dass im Jahre 1950 die himmlische Braut mit dem Bräutigam vereinigt wurde. Für die Deutung dieses Ereignisses kommt natürlich nicht nur das in Betracht, was die Bulle an Argumenten heranzieht, sondern auch die Präfiguration in der apokalyptischen Hochzeit des Lammes und in der alttestamentlichen Anamnesis der Sophia. Die hochzeitliche Vereinigung im Thalamus (Der Thalamus - von griech. δάλαμος thálamos „Schlafgemach“, „Kammer“- bildet den größten Teil des Zwischenhirns. Er setzt sich aus vielen Kerngebieten zusammen, die eine besonders starke Verbindung zur gesamten Großhirnrinde aufweisen. Bei den meisten Menschen sind beide Thalami entwicklungsbedingt über eine dünne Bindegewebsbrücke, die Adhaesio interthalamica -auch Massa intermedia- verwachsen. Diese enthält jedoch nur in Ausnahmefällen kreuzende Fasern -Kommissuren) bedeutet den Hierosgamos und dieser wiederum bildet die Vorstufe zur Inkarnation, d. h. zur Geburt jenes Heilbringers, der seit der Antike als filius solis et lunae, als filius sapientiae und als Entsprechung Christi galt. Wenn also ein Sehnen nach der Erhöhung der Gottesmutter durch das Volk geht, so bedeutet diese Tendenz, wenn zu Ende gedacht, den Wunsch, es möge ein Heilbringer, ein Friedenstifter, ein »mediater pacem faciens inter inimicos« geboren werden. Obschon er im Pleroma immer schon geboren ist, kann seine Geburt in der Zeit nur dadurch zustande kommen, dass sie vom Menschen wahrgenommen, erkannt und erklärt (declaratur) wird. -- Hier verirrt sich Jung endgültig in seinen Phantsien.--
Motiv und Inhalt der populären Bewegung, welche den Entschluss des Papstes zu der folgenschweren declaratio solemnis (Anm.: feierliche Erklärung) des neuen Dogmas veranlasst hat, besteht nicht in einer neuen Gottesgeburt, sondern in der fortschreitenden Inkarnation Gottes, welche mit Christus angehoben hat. Mit historisch-kritischen Argumenten wird man dem Dogma nicht gerecht; man trifft sogar beklagenswert daneben, wie auch mit jenen unsachlichen Befürchtungen, denen die englischen Erzbischöfe Ausdruck verliehen haben: erstens ist durch die Deklaration des Dogmas prinzipiell nichts an der seit über tausend Jahren bestehenden katholischen Auffassung geändert, und zweitens ist die Verkennung der Tatsache, dass Gott ewig Mensch werden will und darum durch den Hl. Geist sich in der Zeit fortschreitend inkarniert, sehr bedenklich und kann nichts anderes besagen, als dass der protestantische Standpunkt, der sich in solchen Erklärungen äußert, ins Hintertreffen geraten ist, indem er die Zeichen der Zeit nicht versteht und das fortschreitende Wirken des Hl. Geistes außer acht lässt. Er hat offenbar die Fühlung mit den gewaltigen archetypischen Entwicklungen in der Seele des Einzelnen wie der Masse und mit jenen Symbolen, welche die wahrhaft apokalyptische Weltlage zu kompensieren bestimmt sind, verloren (Die päpstliche Ablehnung des psychologischen Symbolismus dürfte sich daraus erklären, dass es dem Papste in erster Linie daran liegt, die Wirklichkeit des metaphysischen Geschehens zu betonen. Durch die allgemein vorherrschende Unterschätzung der Psyche wird nämlich jeder Versuch zu einem adaequaten psychologischen Verstehen von vornherein des Psychologismus verdächtigt. Vor dieser Gefahr muss verständlicherweise das Dogma geschützt werden. Wenn man in der Physik das Licht zu erklären versucht, so erwartet niemand, dass es dann kein Licht mehr gäbe. Von der Psychologie glaubt man aber, dass alles das, was sie erklärt, damit wegerklärt sei. Ich kann natürlich nicht erwarten, dass irgendeinem zuständigen Collegium mein besonderer, abweichender Standpunkt bekannt sei). Er scheint einem rationalistischen Historismus verfallen zu sein und das Verständnis für den Hl. Geist, der im Verborgenen der Seele wirkt, eingebüßt zu haben. Er kann daher eine weitere Offenbarung des göttlichen Dramas weder begreifen noch zugeben. -- Jung ist völlig außerstande aus seinem eurozentrisch-christlichen Weltbild herauszutreten und zu sehen, dass der größere Teil der Welt anders beschaffen ist. --
Dieser Umstand hat mir, einem Laien in theologicis, Anlass gegeben, zur Feder zu greifen, um meine Auffassung dieser dunklen Dinge darzustellen. Mein Versuch wird unterstützt durch die psychologische Erfahrung, welche ich auf einem langen Lebenswege geerntet habe. Ich unterschätze die Seele in keinerlei Hinsicht und bilde mir vor allem nicht ein, dass das psychische Geschehen durch Erklärung in eitel Dunst aufgelöst sei. Der Psychologismus stellt noch primitives magisches Denken dar, mit dem man hofft, die Wirklichkeit der Psyche wegzaubern zu können, etwa in der Art des Proktophantasmisten: »Ihr seid noch immer da! Nein, das ist unerhört. Verschwindet doch! Wir haben ja aufgeklärt.« Man wäre übel beraten, wollte man mich mit diesem kindischen Standpunkt identifizieren. Man hat mich aber so oft gefragt, ob ich an die Existenz Gottes glaube oder nicht, dass ich einigermaßen besorgt bin, man könne mich, viel allgemeiner als ich ahne, für einen »Psychologisten« halten. Was die Leute meist übersehen oder nicht verstehen können, ist der Umstand, dass ich die Psyche für wirklich halte. Man glaubt eben nur an physische Tatsachen und muss damit zum Schluss kommen, dass entweder das Uran selber oder wenigstens die Laboratoriumsapparate die Bombe zusammengesetzt haben. Das ist ebenso absurd wie die Annahme, dass eine nichtwirkliche Psyche hierfür verantwortlich sei. Gott ist eine offenkundige psychische und nichtphysische Tatsache, d. h. sie ist nur psychisch, nicht aber physisch feststellbar. Ebenso ist diesen Leuten noch nicht eingegangen, dass Religionspsychologie in zwei scharf zu trennende Gebiete zerfällt, nämlich erstens in die Psychologie des religiösen Menschen und zweitens in die Psychologie der Religion bzw. der religiösen Inhalte.
Es sind hauptsächlich die Erfahrungen auf letzterem Gebiete, welche mir mit den Mut gegeben haben, mich in die Diskussion der religiösen Frage und insbesondere in das pro et Contra des Assumptionsdogmas zu mischen, welches ich, beiläufig gesagt, für das wichtigste religiöse Ereignis seit der Reformation halte. Es ist eine petra scandali (Stein des Anstoßes) für den unpsychologischen Verstand: Wie kann eine derart unbeglaubigte Behauptung, wie die körperliche Aufnahme der Jungfrau in den Himmel als glaubwürdig hingestellt werden? Die Methode der päpstlichen Beweisführung ist aber für den psychologischen Verstand durchaus einleuchtend, denn sie stützt sich erstens auf die unerlässlichen Präfigurationen und zweitens auf eine mehr als tausendjährige Aussagetradition. -- Jung vergisst dass tausendjährige Traditionen überhaupt keinen besonderen Anspruch auf Wahrheit - auch im psychologischen Sinn - haben, sondern zumeist - die katholische Kirche ist ein warnendes Beispiel - aus der Ansammlung von hostorischem Müll bestehen. -- Das Beweismaterial für das Vorhandensein des psychischen Phänomens ist daher mehr als ausreichend. Dass eine physisch unmögliche Tatsache behauptet wird, tut überhaupt nichts zur Sache, denn alle religiösen Behauptungen sind physische Unmöglichkeiten. Wären sie es nicht, so müssten sie, wie gesagt, in der Naturwissenschaft abgehandelt werden. Sie betreffen aber allesamt die Wirklichkeit der Seele und nicht die der Physis. Was aber den protestantischen Standpunkt in Sonderheit kränkt, ist die unendliche Approximation der Deipara (Gottesgebärerin) an die Gottheit und die dadurch gefährdete Suprematie Christi, auf die sich der Protestantismus festgelegt hat, ohne sich dabei Rechenschaft darüber zu geben, dass die protestantische Hymnologie voll ist von Anspielungen auf den »himmlischen Bräutigame, der nun auf einmal keine gleichberechtigte Braut haben soll. Oder hat man etwa den »Bräutigam« in psychologistischer Weise als bloße Metapher aufgefasst?
Die Konsequenz der päpstlichen Deklaration ist nicht zu überbieten und überlässt den protestantischen Standpunkt dem Odium einer bloßen Männerreligion, die keine metaphysische Repräsentation der Frau kennt; ähnlich dem Mithraismus, welchem dieses Präjudiz sehr zum Nachteil gereicht hat. Der Protestantismus hat offenbar die Zeichen der Zeit, die auf die Gleichberechtigung der Frau hinweisen, nicht genügend beachtet. Die Gleichberechtigung verlangt nämlich ihre metaphysische Verankerung in der Gestalt einer »göttlichen« Frau, der Braut Christi. Wie man die Person Christi nicht durch eine Organisation ersetzen kann, so auch nicht die Braut durch die Kirche. Das Weibliche verlangt eine ebenso personhafte Vertretung, wie das Männliche.
Durch die Dogmatisierung der Assumptio hat Maria allerdings den Status einer Göttin nach dogmatischer Ansicht nicht erreicht, obschon sie als Herrscherin des Himmels (im Gegensatz zum Fürsten des sublunaren Luftreiches, Satan) und Mediatrix Christo, dem König und Mittler, funktionell so gut wie gleichwertig ist. Jedenfalls genügt ihre Stellung dem Bedürfnis des Archetypus. Das neue Dogma bedeutet eine erneuerte Hoffnung auf Erfüllung der die Seele im Tiefsten bewegenden Sehnsucht nach Frieden und Ausgleich der drohend angespannten Gegensätze. An dieser Spannung hat jeder Anteil und jeder erfährt sie in der individuellen Form seiner Unrast, und dies umso mehr, je weniger er eine Möglichkeit sieht, sie mit rationalen Mitteln zu beheben. Es ist daher kein Wunder, wenn in der Tiefe des kollektiven Unbewussten und zugleich in den Massen sich die Hoffnung, ja Erwartung einer göttlichen Intervention erhebt. Dieser Sehnsucht hat die päpstliche Deklaration tröstlichen Ausdruck verliehen. -- Das ist eine völlig verrückte Interpretation eines Geschehens, das bestenfalls für eine verschwindende Minderheit selbst der katholischen Kirche Bedeutung hatte. Wenn dies für Jung Bedeutung hatte, so sei ihm das zugestanden. Hier von einem kollektiven Unbewussten zu sprechen, ist blanker Unsinn. -- Wie konnte der protestantische Standpunkt daran vorbeisehen? Man kann dieses Unverständnis nur dadurch erklären, dass die dogmatischen Symbole und hermeneutischen Allegoriae (Anm.: Texterklärungsmodelle) ihren Sinn für den protestantischen Rationalismus verloren haben. Dies gilt auch in gewissem Maße für die innerhalb der katholischen Kirche bestehende Opposition gegen das neue Dogma, resp. gegen die Dogmatisierung der bisherigen Doktrin. Ein gewisser Rationalismus steht allerdings dem Protestantismus besser an als der katholischen Einstellung. Letztere lässt dem saecularen Entwicklungsprozess des archetypischen Symbols freien Raum und setzt dieses in seiner ursprünglichen Gestalt durch, unbekümmert um Schwierigkeiten des Verständnisses und kritische Einwendungen. Hierin erweist die katholische Kirche ihren mütterlichen Charakter, indem sie den aus ihrer Matrix wachsenden Baum sich nach dem ihm eigentümlichen Gesetz entwickeln lässt. Der einem väterlichen Geiste verpflichtete Protestantismus dagegen hat sich nicht nur anfänglich aus einer Auseinandersetzung mit dem weltlichen Zeitgeiste herausgebildet, sondern setzt auch die Diskussion mit den jeweiligen geistigen Zeitströmungen fort, denn das Pneuma ist, seiner ursprünglichen Windnatur gemäß, schmiegsam und stets in lebendigem Fluss, bald dem Wasser, bald dem Feuer vergleichbar. Es kann sich von seiner ursprünglichen Stätte entfernen, sich sogar verlaufen und verlieren, wenn es vom Zeitgeist allzu sehr überwältigt wird. Der protestantische Geist muss, um der Erfüllung seiner Aufgabe zu genügen, unruhvoll und bisweilen unbequem, ja revolutionär sein, um der Tradition den Einfluss auf die Umwälzungen der weltlichen Anschauungen zu sichern. Die Erschütterungen, die er bei dieser Auseinandersetzung erleidet, verändern und beleben zugleich die Tradition, welche in ihrem langsamen, saecularen Prozess ohne diese Störungen schließlich zur völligen Erstarrung und damit zur Unwirksamkeit gelangen müsste. Aus bloßer Kritik an und Opposition gegen gewisse Entwicklungen im katholischen Christentum gewinnt aber der Protestantismus nur ein kümmerliches Leben, wenn er nicht, eingedenk der Tatsache, dass die Christenheit aus zwei getrennten Lagern, oder - besser - aus einem uneinigen Geschwisterpaar besteht, sich darauf besinnt, dass er neben der Verteidigung seiner eigenen Existenz auch die Daseinsberechtigung des Katholizismus anerkennen muss. Ein Bruder, welcher der älteren Schwester den Lebensfaden aus theologischen Gründen abschneiden möchte, müsste mit Recht unmenschlich genannt werden -von Christlichkeit ganz zu schweigen -et vice-versa. Eine bloß negative Kritik ist nicht konstruktiv. Sie ist nur in dem Maße berechtigt, als sie schöpferisch ist. Es schiene mir darum nützlich, wenn der Protestantismus z. B. zugäbe, dass er vom neuen Dogma nicht nur darum schockiert ist, weil es die Kluft zwischen den beiden Geschwistern peinlich beleuchtet, sondern auch darum, weil innerhalb des Christentums sich eine Entwicklung aus schon lange vorhandenen Grundlagen ergeben hat, welche das Christentum überhaupt dem Bereiche weltlichen Verständnisses noch weiter entrückt, als dies schon bisher der Fall war. Der Protestantismus weiß -oder könnte es wissen -, wie viel seine Existenz der katholischen Kirche verdankt. Wie viel oder wie wenig besitzt der Protestant noch, wenn er nicht mehr kritisieren und protestieren kann? Angesichts des intellektuellen Skandalons, welches das neue Dogma bedeutet, sollte sich der Protestantismus seiner christlichen Verantwortung (»Soll ich meines Bruders Hüter sein?«) entsinnen und allen Ernstes untersuchen, welche Gründe, laut oder leise, für die Deklaration des neuen Dogmas maßgeblich waren. Man möge sich dabei vor billigen Verdächtigungen hüten und täte gut daran, anzunehmen, dass mehr und Bedeutsameres dahinter steckt, als päpstliche Willkür. Es wäre wünschenswert, wenn der Protestantismus begriffe, dass durch das neue Dogma ihm eine neue Verantwortung vor dem weltlichen Zeitgeist zugewachsen ist, denn er kann seine ihm problematische Schwester vor der Welt nicht einfach desavouieren. Er muss ihr, auch wenn sie ihm unsympathisch ist, doch gerecht werden, wenn er seine Selbstachtung nicht verlieren will. Er könnte es z. B. dadurch tun, dass er sich bei dieser günstigen Gelegenheit überhaupt einmal die Frage vorlegt, was nicht nur das neue Dogma, sondern alle mehr oder weniger dogmatischen Behauptungen jenseits ihres wortwörtlichen Konkretismus zu bedeuten haben. Da er mit seiner willkürlichen und schwankenden Dogmatik sowohl wie mit seiner losen und durch Spaltungen zerklüfteten Kirchenverfassung es sich nicht leisten kann, gegenüber dem Zeitgeist starr und unzugänglich zu bleiben und überdies, gemäß seiner Verpflichtung an den Geist, darauf angewiesen ist, sich mehr mit der Welt und ihren Gedanken auseinanderzusetzen, als mit dem lieben Gott, so wäre es wohl angezeigt, dass er anlässlich des Einzugs der Gottesmutter ins himmlische Brautgemach an die große Aufgabe einer neuen Interpretation der christlichen Traditionen heranträte. Wenn es sich um Wahrheiten handelt, die zutiefst in der Seele verankert sind, woran niemand, der auch nur einen Schatten von Einsicht besitzt, zweifeln kann, so muss die Lösung dieser Aufgabe möglich sein. Dazu bedarf es der Freiheit des Geistes, die, wie wir wissen, nur im Protestantismus gewährleistet ist. Die Assumptio bedeutet für die historische und rationalistische Orientierung einen Schlag ins Gesicht und würde es für alle Zeiten bleiben, wenn man sich auf Argumente der Vernunft und der Historie versteifen sollte. Wenn je, so liegt hier der Fall vor, der ein psychologisches Verständnis erheischt, denn das zutagetretende Mythologem ist dermaßen offenkundig, dass es schon absichtlicher Blindheit bedarf, um dessen symbolische Natur, bzw. Deutbarkeit verkennen zu können. -- Jung hat also eine Lösung für das Problem der Kirchenspaltung. Dass die Gründe für deren Aufrechterhaltung wesentlich profaner sind als Jungs Phantasien, wird diese Spaltung wohl dauerhaft bewahren. Es lässt sich nämlich über nichts trefflicher diskutieren und unterschiedlicher Ansicht sein als über Glaubensvorstellungen, insbesondere wenn niemals über die tatsächlichen Beweggründe gesprochen wird, die da Macht u.dgl. sind. ---
Durch die Dogmatisierung der Assumptio Mariae wird auf den Hierosgamos im Pleroma hingewiesen, und dieser seinerseits bedeutet, wie gesagt, die zukünftige Geburt des göttlichen Kindes, welches, entsprechend der göttlichen Tendenz zur Inkarnation, den empirischen Menschen zur Geburtsstätte erwählen wird. Dieser metaphysische Vorgang ist der Psychologie des Unbewussten als Individuationsprozess bekannt. Insofern letzterer in der Regel unbewusst verläuft, wie er dies schon immer getan hat, will er nicht mehr bedeuten, als dass eine Eichel zur Eiche und ein Kalb zur Kuh und ein Kind zum Erwachsenen wird. Wird aber der Individuationsprozess bewusst gemacht, so muss zu diesem Zwecke das Bewusstsein mit dem Unbewussten konfrontiert und ein Ausgleich zwischen den Gegensätzen gefunden werden. Da dies logisch nicht möglich ist, so ist man auf Symbole, welche die irrationale Vereinigung der Gegensätze ermöglichen, angewiesen. Sie werden vom Unbewussten spontan hervorgebracht und vom Bewusstsein amplifiziert (Unter Amplifikation versteht man eine von Carl Gustav Jung entwickelte Methode der Psychoanalyse. Die Amplifikation stellt eine Erweiterung der Traumdeutung Sigmund Freuds dar. Während bei Freuds Methode der freien Assoziation der Therapeut nicht in die Traumschilderung des Klienten eingreift, richtet der Therapeut bei der Amplifikation die Aufmerksamkeit auf bestimmte Traumelemente und reichert sie durch assoziatives und analoges Material (beispielsweise aus Mythologie und Symbolkunde) an. Dadurch können dunkle Erlebnisse des Klienten, die allein aus dem Kontext der Biografie nicht erklärt werden können, erhellt werden. Die Methode der Amplifikation lässt sich auch auf den Umgang mit religiösen und mythologischen Aussagen anwenden, da diese (nach Jungs Theorie des Archetypus) ebenfalls als Äußerungen des Unbewussten aufgefasst werden müssen). Die zentralen Symbole dieses Prozesses beschreiben das Selbst, nämlich die Ganzheit des Menschen, der einerseits aus dem, was ihm bewusst ist, und andererseits aus den Inhalten des Unbewussten besteht. Das Selbst ist der τέλειος άνδρωπος (teleios andropos), der vollständige Mensch, dessen Symbole das göttliche Kind oder dessen Synonyme sind. Dieser hier nur summarisch skizzierte Prozess lässt sich beim modernen Menschen jederzeit beobachten, oder man kann darüber in den Dokumenten der hermetischen Philosophie des Mittelalters nachlesen und wird über den Parallelismus der Symbole erstaunt sein, wenn man beides kennt, die Psychologie des Unbewussten und die Alchemie. -- Ja, ja. Jung hat sich viel Mittelalter zu Gemüte geführt und das hat ihm offenbar nicht gut getan. --
Der Unterschied zwischen dem natürlichen, unbewusst verlaufenden und dem bewusst gemachten Individuationsprozess ist gewaltig. In ersterem Falle greift das Bewusstsein nirgends ein; das Ende bleibt daher so dunkel wie der Anfang. In letzterem Falle dagegen kommt so viel Dunkles ans Licht, dass einerseits die Persönlichkeit durchleuchtet wird, andererseits das Bewusstsein unvermeidlich an Umfang und Einsicht gewinnt. Die Auseinandersetzung zwischen Bewusstsein und Unbewusstem hat dafür zu sorgen, dass das Licht, das in die Finsternis scheint, nicht nur von der Finsternis begriffen wird, sondern auch letztere begreift. Der filius solis et lunae ist ebensowohl Symbol wie Möglichkeit der Gegensatzvereinigung. Er ist das Α und Ω des Prozesses, der Mediator und Intermedius. »Habet mille nominae, sagen die Alchemisten und deuten damit an, dass das, woraus der Individuationsprozess kausal hervorgeht und worauf er hinzielt, ein namenloses Ineffabile (Anm.: nicht zu fassen, unbegreiflich) ist.
Dass die Gottheit auf uns wirkt, können wir nur mittels der Psyche feststellen, wobei wir aber nicht zu unterscheiden vermögen, ob diese Wirkungen von Gott oder vom Unbewussten kommen, d. h. es kann nicht ausgemacht werden, ob die Gottheit und das Unbewusste zwei verschiedene Größen seien. Beide sind Grenzbegriffe für transzendentale Inhalte. Es lässt sich aber empirisch mit hinreichender Wahrscheinlichkeit feststellen, dass im Unbewussten ein Archetypus der Ganzheit vorkommt, welcher sich spontan in Träumen etc. manifestiert, und dass eine vom bewussten Willen unabhängige Tendenz besteht, andere Archetypen auf dieses Zentrum zu beziehen. Es erscheint daher nicht unwahrscheinlich, dass ersterer auch an sich eine gewisse zentrale Position besitzt, welche ihn dem Gottesbild annähert. Die Ähnlichkeit wird noch insbesondere dadurch unterstützt, dass der Archetypus eine Symbolik hervorbringt, welche von jeher schon die Gottheit charakterisierte und versinnbildlichte. Diese Tatsachen ermöglichen eine gewisse Einschränkung unseres obigen Satzes von der Ununterscheidbarkeit des Gottesbegriffes und des Unbewussten: das Gottesbild koinzidiert (Anm.: zusammenfallen, -treffen), genau gesprochen, nicht mit dem Unbewussten schlechthin, sondern mit einem besonderen Inhalt desselben, nämlich mit dem Archetypus des Selbst. Dieser ist es, von dem wir empirisch das Gottesbild nicht mehr zu trennen vermögen. Man kann zwar arbiträr eine Verschiedenheit dieser beiden Größen postulieren. Das nützt uns aber gar nichts, im Gegenteil hilft es nur dazu, Mensch und Gott zu trennen, wodurch die Menschwerdung Gottes verhindert wird. Gewiss hat der Glaube recht, wenn er dem Menschen die Unermesslichkeit und Unerreichbarkeit Gottes vor Augen und zu Gemüte führt; aber er lehrt auch die Nähe, ja Unmittelbarkeit Gottes, und es ist gerade die Nähe, die empirisch sein muss, soll sie nicht völlig bedeutungslos sein. Nur das, was auf mich wirkt, erkenne ich als wirklich. Was aber nicht auf mich wirkt, kann ebensogut nicht existieren. Das religiöse Bedürfnis verlangt nach Ganzheit und ergreift darum die vom Unbewussten dargebotenen Ganzheitsbilder, die, unabhängig vom Bewusstsein, aus den Tiefen der seelischen Natur aufsteigen. -- Siehe oben,  Ende XVI--
Es ist dem Leser wohl deutlich geworden, dass die im Vorausgegangenen dargestellte Entwicklung symbolischer Größen einem Differenzierungsprozess des menschlichen Bewusstseins entspricht. Da wir es aber bei den Archetypen, wie eingangs gezeigt, nicht nur mit bloßen Objekten der Vorstellung, sondern auch mit autonomen Faktoren, d. h. mit lebendigen Subjekten zu tun haben, so lässt sich die Bewusstseinsdifferenzierung als die Wirkung der Intervention seitens transzendental bedingter Dynamismen verstehen. In diesem Fall wären es dann die Archetypen, welche die primäre Wandlung vollziehen. Da es nun aber in unserer Erfahrung keine psychischen Zustände gibt, welche man introspektiv außerhalb eines Menschen zu beobachten vermöchte, so kann das Verhalten der Archetypen ohne Einwirkung des beobachtenden Bewusstseins überhaupt nicht erforscht werden, und darum kann auch die Frage, ob der Prozess beim Bewusstsein oder beim Archetypus anfängt, nie beantwortet werden; es sei denn, dass man entweder, im Widerspruch zur Erfahrung, den Archetypus seiner Autonomie berauben, oder das Bewusstsein zur bloßen Maschine erniedrigen will. Man befindet sich aber mit der psychologischen Erfahrung in bester Übereinstimmung, wenn man dem Archetypus ein bestimmtes Maß an Selbständigkeit und dem Bewusstsein eine dessen Grad entsprechende schöpferische Freiheit zugesteht. Daraus entsteht dann allerdings jene Wechselwirkung zwischen zwei relativ autonomen Faktoren, welche uns zwingt, in der Beschreibung und Erklärung der Vorgänge bald den einen, bald den anderen Faktor als handelndes Subjekt auftreten zu lassen, und zwar selbst dann, wenn Gott Mensch wird. Dieser Schwierigkeit ist die bisherige Lösung dadurch entgangen, dass sie nur den einen Gottmenschen, Christum, anerkannte. Durch die Einwohnung der dritten göttlichen Person im Menschen, nämlich des Hl. Geistes, entsteht eine Christifikation Vieler, und dann erhebt sich das Problem, ob diese Vielen lauter totale Gottmenschen seien. Eine derartige Wandlung würde aber zu unleidlichen Kollisionen führen, ganz abgesehen von der unvermeidlichen Inflation, welcher die gewöhnlichen, von der Erbsünde nicht befreiten Sterblichen sofort erliegen würden. In diesem Falle tut man wohl gut daran, sich an Paulus und dessen Bewusstseinsspaltung zu erinnern: einerseits fühlt er sich als von Gott unmittelbar berufenen und erleuchteten Apostel, andererseits als sündigen Menschen, der den »Pfahl im Fleisch« und den ihn plagenden Satansengel nicht loszuwerden vermag. Das heißt, selbst der erleuchtete Mensch bleibt der, der er ist und ist nie mehr als sein beschränktes Ich gegenüber dem, der ihm einwohnt, und dessen Gestalt keine erkennbaren Grenzen hat, der ihn allseits umfasst, tief wie die Gründe der Erde und weiträumig wie der Himmel.


-- Abschließende Bemerkungen

1. Antwort auf Hiob wird von der Anhängergemeinde von C.G. Jung ausdücklich als reifes Alterswerk gelobt und dies sei dieser Gruppe von Menschen auch ausdrücklich zugebilligt. Dies kann aber nur unter der ausdrücklichen Randbedingung des Für-Wahr-Haltens der von Jung postulieren Theorien gelten, die ich für einen Ausdruck eines Glaubens bis hin auch zum Aberglauben eines hoch intellektuellen Menschen ansehe (siehe "Erinnerungen, Träume, Gedanken" und "Das Rote Buch"). Da aber aus meinem Verständnis kein Glaube diskutierbar ist, eben weil er Glaube ist und damit für den Glaubenden wahr, habe ich mich nur an den für mich abstrusesten Stellen zu bösen Bemerkungen hinreißen lassen. Sollte ich damit irgendjemanden in seinen Gefühlen verletzen, entschuldige ich mich, da dies nicht meine Intention war.
2. Insbesondere aber nicht nur im letzten Absatz dieser Schrift wird klar, wie stark Jungs Psychologie letztlich eine Frage christlichen Glaubens in durchaus exzentrischen Dimensionen ist, auch wenn er insbesondere von evangelikalen Gruppen wegen seiner esoterischen Anflüge aufs heftigste bekämpft wird (siehe u.a. "Carl Gustav Jung der getriebene Visionär", CLV Bielefeld). Mit denen habe ich gar nichts gemeinsam, da diese Gruppen für mich das negative Ende der Entwicklungsmöglichkeiten von Glaubensvorstellungen sind: bigott, abergläubisch, Menschen versklavend und zutiefst intolerant.
3. Ich habe mir bei der Beschäftigung mit Jungs Werk immer wieder die Frage gestellt, wie es möglich ist, dass Menschen wie er und Sigmund Freud, dessen Werk ich in noch größerem Umfang gelesen habe als das Jungs, trotz ihrer offensichtlichen, nicht nur persönlich, sondern auch sachlichen Gegensätzlichkeit tatsächlich leidenden Menschen helfen konnten. Die einzig mögliche Antwort ist die generell große Unterschiedlichkeit der menschlichen Persönlichkeit, die ganz unterschiedliche Umgangsweisen mit seelischen Leiden erfordert, was sich heute auch im Unterschied zum Anfang des 20. Jahrhunderts in der außerordentlich großen Zahl unterschiedlichster Therapieformen widerspiegelt.
4. Aus meiner Warte spiegelt sich sowohl bei Freud als auch bei Jung vor allem deren Persönlichkeit in ihrer sozialen Wirklichkeit. Dass eine Reihe Ihrer Theorien heute durchaus als Allgemeinwissen angesehen werden können (Unbewusstes, Verdrängung, etc.), spiegelt wider, dass es heute mehr denn je ein Bedürfnis gibt, nach Verlust so vieler scheinbar absoluter Sicherheiten (Religion, Nation, und sonstige Wertvorstellungen) im Verstehen von sich selbst eine Ersatzsicherheit zu finden. Es sagt nichts über die Richtigkeit von deren Theorien im einzelnen aus. Ganz im Gegenteil. Vieles wurde heute schon verworfen, weil es sich als untauglich erwiesen hat.
5. Ich stelle mir hier die Frage, warum ich denn überhaupt diese Schrift kommentiert habe. Eigentlich sind meine Kommentare bedeutungslos. Jung lebt längst nicht mehr und sollte jemand aus seiner Anhängergemeinde zufälligerweise in diesem Blog landen, werden die Kommentare ihn nicht vom Gegenteil überzeugen, was auch nicht die Absicht ist. Die Antwort ist ziemlich einfach. Ich selbst habe beim Lesen der Schriften von Jung sehr oft in seinen Worten seine außerordentlich starke Persönlichkeit gespürt, aber auch seine ungemeine Intellektualität bewundert. Es wunderte mich nicht, dass er de facto ein Guru im Zentrum einer Glaubensgemeinde wurde und mir ist auch klar, dass es für die ihn umgebenden Menschen ganz schwer war, sich seiner Persönlichkeit zu entziehen. Umso mehr war es für mich wichtig, nicht die scheinbaren Folgerichtigkeiten in seinen Schriften unhinterfragt zu akzeptieren. Sie sind nämlich nur innerhalb des jungschen Gedankensystems folgerichtig. Außerhalb müssen sie geglaubt werden. Auch die Berufung Jungs auf seine Erfahrung als Arzt macht dies nicht besser (siehe 4). Meine Kommentare sind also lediglich ein Vorgang der Abgrenzung, um nicht auf den "Zauberer" Jung hereinzufallen und eine im Denken und Fühlen halbwegs autonome Person zu bleiben. Nicht alles, was irgendwann geschrieben wurde, ist deswegen bedeutsam, ein Grundsatz den Jung insbesondere, was die Vielzahl der von ihm gelesenen mythologischen Schriften betrifft, beherzigen hätte sollen.


ENDE